Editorial #17

Lesedauer 3 Minuten

von Sebastian Huber & Markus Edelmann

© Irina Gavrich

Verehrtes Publikum!

Nach dem Besuch einer HELDENPLATZ-Aufführung im Burgtheater veröffentlichte Ilse Aichinger am 24. Mai 1993 in der Tageszeitung Der Standard einen Text mit dem Titel „Die bedrohliche Anhängerschar“. Als „beängstigend[ ]“ stellte sie darin eine zu „blindem Fanatismus“ neigende Verehrung Thomas Bernhards dar, in der sie ein großes Missverständnis erkannte, denn „[g]roteskerweise ist ja verkommener Jubel das Thema von Bernhards Stück“. ‚Verkommen‘ – das kann heißen ‚verwildern‘, ‚verwahrlosen‘ oder ‚sich in etwas Schlechtes verkehren‘, ‚in etwas Ungutes umschlagen‘. Alle diese Bedeutungen weisen darauf hin, dass dem Eindruck der Massenbegeisterung am Heldenplatz 1938 nicht zu entkommen ist, da er auch als „absolute[s] Gegenbild“ wieder auftauchen kann.

Ob Anzeichen dafür sichtbar sind, untersucht eine Fotoserie, die den Heldenplatz aus aktueller, alltäglicher Perspektive zeigt. Nachdem die Fotografin Irina Gavrich in der letzten Ausgabe des Burgtheater Magazins Orte des Protests und zivilen Engagements in Wien festgehalten hat, lässt sie nun mit ihren Heldenplatz-Portraits die Frage offen, ob dessen Bedeutung tatsächlich im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Nur ein Bewusstsein für historische und gegenwärtige gesellschaftspolitische Entwicklungen macht verständlich, dass – wie Ilse Aichinger schreibt – „dieser ‚Heldenplatz‘ nicht nur über die Nazis von damals und heute, sondern auch über die Anhänger von damals und heute spricht“.

Dieses Gespräch wird in den Beiträgen des Magazins aufgenommen: So denkt Oliver Rathkolb einleitend über den aktuellen Zustand der Demokratie in Österreich und Europa nach. Helmut Lethen spricht anlässlich der Premieren von DER GROSSINQUISITOR und IPHIGENIE AUF TAURIS darüber, was Humanismus heute bedeuten kann. Ein Beitrag der Letzten Generation wirft die Frage nach individueller und gemeinschaftlicher Verantwortung auf. Pia Maria Mackert, Bühnenbildnerin bei DIE VERWANDLUNG, und Ming, Musikerin bei CYPRESSENBURG, geben Einblick in den kollektiven Arbeitsprozess am Theater. Tamara Radak portraitiert den Dramatiker und Filmemacher Martin McDonagh, dessen frühes Werk DER EINSAME WESTEN im Akademietheater gezeigt wird, und Leonie Lorena Wyss bringt im Gespräch über den neuen Theatertext MUTTERTIER eine queer-feministische Perspektive ein. In einem als Fundstück präsentierten Zeitungsartikel über Tennessee Williams geht dieser der Frage nach, wie sich das persönliche Verhältnis zur Welt verändert, wenn man sich als soziales, politisches Wesen begreift. Und Sabrina Zwachs Beitrag über die letzte Produktion dieser Direktion schließt in gewisser Weise an den Ausgangspunkt an, widmet er sich doch dem ZENTRALFRIEDHOF, dem „Heldenplatz der Wiener Totenverehrung“ (FAZ). Daraus wird abschließend erkenntlich, dass Gedenken und Erinnerung auch spielerisch-komische Angelegenheiten sein können, die im besten Fall zum hellsichtigen Lachen bringen.

Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre!

Sebastian Huber und Markus Edelmann (Dramaturgie)

Magazin #17: Zukunft

Fritsch am Zentralfriedhof

Sabrina Zwach über Herbert Fritschs theatralen Aberglauben und Wiens besonderen Umgang mit Tod und Sterben.

Nur die Spitze des Eisbergs

Burgtheaterstudio
Ein Gespräch mit Leonie Lorena Wyss geführt von Rita Czapka, das Einblick in die Entstehung und Konzeption von Wyss' MUTTERTIER gibt – das Gewinnerstück des Retzhofer Dramapreises 2023.

Austrian Gangstersound

Playlist
#8: Playlist von MING zum Stück CYPRESSENBURG

Licht, Schatten und Bedrängnis

Bilder vom Theater
Ein Gespräch mit Pia Maria Mackert zu Kafkas VERWANDLUNG, geführt von Jeroen Versteele.

Das Leben ist ein schwarzer Witz

Fundstück
Anlässlich einer Premiere in Wien im Jahr 1976 hat Tennessee Williams im Hotel Imperial ein Interview gegeben, das wir als Fundstück präsentieren.

DER IRISCHE THEATER-TARANTINO

Grotesk, gewalttätig, genial: Mit diesen Attributen wird das Werk von Martin McDonagh oftmals beschrieben, sein Stück DER EINSAME WESTEN feiert am 22. März 2024 im Akademietheater Premiere. Ein Portrait des Autors von Tamara Radak.

Das Licht der letzten Generation

Burgtheaterstudio
Ein Beitrag von Bernhard Kogler-Sobl, der als Aktivist der LETZTEN GENERATION eine der gegenwärtig prominentesten klimaaktivistischen Organisationen vertritt.

Verteufelt Human

Interview
Brauchen wir eine Aufklärung der Aufklärung? Die beiden Premieren IPHIGENIE AUF TAURIS und DER GROSSINQUISITOR waren Anlass, uns mit dem renommierten Germanisten und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen zu unterhalten.

Demokratie hat Zukunft

Interview
Ein Gespräch mit Oliver Rathkolb über Thomas Bernhards HELDENPLATZ und eine europaweite Demokratie-Studie.

Editorial #17

von Sebastian Huber & Markus Edelmann
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