Verteufelt Human
Brauchen wir eine Aufklärung der Aufklärung? Die beiden Akademietheater-Premieren IPHIGENIE AUF TAURIS in der Regie von Ulrich Rasche und DER GROSSINQUISITOR, ein Soloabend mit Barbara Petritsch, waren Anlass, uns mit dem renommierten Germanisten und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen zu unterhalten. Sowohl Goethe als auch Dostojewskij haben über die Aufgabe des Humanismus in der Gesellschaft nachgedacht. Sie sind zu unterschiedlichen Resultaten gekommen, die im Kontext unserer Tage zu diskutieren sind.
Wir Intellektuelle haben unserem Leben in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg die Kulturform der Wehrlosigkeit gegeben. Struktureller Pazifismus prägt selbst unsere unfitte Armee. Das färbte auch auf unseren Begriff des Humanismus ab. Mein erster Versuch, den Humanismus zu verstehen, blieb völlig im Rahmen dieser milden Version: Humanismus ist eine verschärfte Aufmerksamkeit für die Sorge der anderen, eine freundschaftsstiftende Kommunikation, in der es darum geht, gegenseitig „Nachbarn des Seins“ zu sein. Diese Phrase kommt, vermute ich, von Martin Heidegger. Die Frage ist, ob diese Formel gegenwärtig im Zeichen der „Zeitenwende“ aufrechterhalten werden kann. Denn sie ist ja mehr als der faule Zauber eines Diskurswechsels. Es geht um die Notwendigkeit der Bewaffnung. Die Kategorie des „Feindes“ war im milden Humanitätsbegriff gelöscht, eine Theorie des bewaffneten Humanismus haben wir nicht. Ein Historiker, mit dem ich über meine Ratlosigkeit sprach, sagte mir: „Denke daran, auch Machiavelli war Humanist.“ Und einige Denker wie Max Weber, Helmuth Plessner und Carl Schmitt haben nach dem 1. Weltkrieg den Großinquisitor durchaus als machiavellistischen Humanisten gelesen. Wir müssen daran erinnern, dass Dostojewskijs Legende aus dem 80er Jahre des 19. Jahrhunderts im frühen 20. Jahrhundert als Herrschaftstraktat höchst willkommen war.
„Überall sind noch die Drähte sichtbar, an denen gezogen wird.“
Humanismus erzeugt nur kraftlose Kreaturen, lehrt der Kardinal, der soeben „an die Hundert“ Häretiker hat verbrennen lassen. Aus Sicht des Großinquisitors ist Iphigenie ein Exempel der Kraftlosigkeit. Aber sie siegt auf der ganzen Linie. Goethes Drama ist ein absolut glattes und verblüffend roh-raues Ding. Der mörderische Hintergrund der Tantaliden-Geschichte, die Barbarei des Mordes und Totschlags im Hintergrund bleiben völlig unberührt von der Läuterungsgeschichte des Orest. Kehren die jugendlichen Helden in die Totschlägerkette Griechenlands zurück und führen Iphigenie als Trophäe mit sich?
„Langsames Lesen zerstört Vorurteile.“
Helmut Lethen
geboren 1939, ist ein deutscher Germanist und Kulturwissenschaftler. Er lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch „Verhaltenslehren der Kälte“ (1994) gilt als literaturwissenschaftliches Standardwerk, „Der Schatten des Fotografen“ (2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Buch „Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen“ (2022).