Nur die Spitze des Eisbergs
Der Retzhofer Dramapreis, vergeben vom DRAMA FORUM Graz, zählt zu den renommiertesten Nachwuchspreisen für zeitgenössische Dramatik im deutschsprachigen Raum. Gewinnerstück des Jahres 2023 ist MUTTERTIER von Leonie Lorena Wyss. Das folgende Gespräch mit Wyss gibt Einblick in die Entstehung und Konzeption des Stücks, das am 10. Februar 2024 im Vestibül uraufgeführt wurde.
„Erzählen selbst wird zum Versuch der Navigation“
Abseits der Auswirkung der psychischen Erkrankung der Mutter auf das Erleben der drei Geschwister kann natürlich auch das Krankheitsbild der Depression selbst auf das Bild der Titanic hin gedeutet werden: Das ständige Zusteuern auf den Untergang, der fortdauernde Versuch, sich über Wasser zu halten. Während des Schreibens ist mir zudem immer wieder das Wort „Mutterschiff“ in den Kopf gekommen. Ich habe viele Texte gelesen, in denen es um eine Auseinandersetzung von weiblich gelesenen Personen mit Mutterschaft geht, darum, diese zu bereuen oder gar nicht erst zu wollen. Die Verknüpfung von psychischer Erkrankung und Mutterschaft scheint mir immer noch eine Leerstelle und ein Tabu zu sein. Speziell für chronisch kranke Mütter gleichen die elterlichen Anforderungen einer Fahrt gegen den Eisberg, einem einsamen Steuern auf offener See.
Leonie Lorena Wyss
studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und Madrid sowie anschließend Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Wyss arbeitet als Autor*in und Dramaturg*in in unterschiedlichen Kollektiven und ist neben dem Schreiben in der politischen Bildungsarbeit tätig. Für das Debütstück „Blaupause“ erhielt Wyss den Autor*innenpreis des 40. Heidelberger Stückemarkts sowie den Retzhofer Dramapreis 2023. Zuletzt schrieb Wyss im Rahmen einer siebenteiligen Theaterserie die Episode „was wenn doch“ für das Zimmertheater in Tübingen. 2024 werden Arbeiten am Burgtheater Wien, Schauspiel Köln sowie am Theater Heidelberg zu sehen sein.