Editorial #14
„Der Traum ist der beste Beweis dafür,
dass wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind,
als es scheint.“
Friedrich Hebbel
Verehrtes Publikum!
Wenn im Zuschauerraum das Licht ausgeht und sich viele individuelle Körper zu einem gemeinsam fühlenden und politischen Körper vereinen, entsteht eins der ältesten Spannungsgefüge der Menschheit. Wie verhält sich das Individuum zum Kollektiv? Verbinden sich im Dunkel des Zuschauerraums, des Kinosaals unsere Träume zu einem kollektiven Traum – und finden wir dort nicht nur Zugang zu unseren Seelen und einen Weg ins Unbewusste, sondern auch zu einem tiefen Verständnis von der Kraft der Solidarität und eines gemeinsamen Gestaltungswillens? Ist solch ein kollektiver Traum ein Gradmesser für gesellschaftliche Veränderungen und geteilte Affekte, oder ist dieses Zusammenkommen letztlich eine Täuschung, die mit dem Applaus und dem Wiedereinsetzen des Lichts unweigerlich aufgehoben wird? Wie viel Bestand hat ein „wir“, das die Grenzen unserer je eigenen Träume überschreitet?
In seinem Text „Über die eigenen Körper hinaus“ erzählt der Autor, Übersetzer und Dramaturg Mehdi Moradpour von der aktuellen Erfahrung der Menschen im Iran, dass jeder Verlust, jede Enttäuschung, jeder Trauerfall ein öffentliches, politisches, somit kollektiv relevantes Ereignis ist, das den Traum von einer gerechteren und befreiten Zukunft nähren kann.
Unsere Premieren von Ende Jänner bis Anfang April haben wir auf das Vorkommen von Träumen hin befragt, die sich stets ambivalent zeigen zwischen Illusion und Orakel, Weltentrückung und einer Weisung zur Veränderung der Wirklichkeit.
In der Rubrik Fundstück präsentieren wir einen Auszug aus dem ersten Prosabuch „Hammerklavier“ von Yasmina Reza, während die Proben für die Uraufführung ihres Romans SERGE am 23.02.2023 im Akademietheater auf Hochtouren laufen. Den Musiker, Komponisten und Texter Paul Plut haben wir gebeten, eine Playlist seiner Inspirationen für die Arbeit an DAS FLÜSSIGE LAND zu teilen, wo er als Live-Musiker ab der Uraufführung am 04.02.2023 auf der Bühne des Kasinos am Schwarzenbergplatz zu erleben sein wird. In der Rubrik Schreibweisen widmet sich die Dramaturgin Sabrina Zwach ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Intuitionskünstler Herbert Fritsch und seinen sinnlich-lebendigen, halluzinatorischen Bühnenarbeiten. Fritsch plant, in seiner Inszenierung eines Zaubermärchens von Ferdinand Raimund die Phantasie zu entfesseln: Premiere im Burgtheater ist am 25.02.2023.
Eine besondere Beziehung verbindet uns mit der ukrainischen Dramatikerin und Künstlerin Luda Tymoshenko, die wir im Rahmen unseres Austauschs mit dem Autor*innentheater Kiew bei mehreren Lesungen zu Gast hatten und die für dieses Heft zum Thema Träume die Bilder gestaltet hat. Die bildende Künstlerin Sophie Gogl wiederum hat eine Probe zu Bastian Krafts Inszenierung DER ZAUBERBERG besucht und ihre Eindrücke in einem Kunstwerk festgehalten.
Einen Blick ins Repertoire werfen wir mit Christian Krachts Roman EUROTRASH, in dem auf so einfühlsame wie ironische Weise das gemeinsame Träumen, die gemeinsame Flucht aus dem Alltag als Beziehungskitt zwischen Mutter und Sohn überprüft wird. Christian-Mathias Wellbrock, Dozent an der Hamburg Media School, hat eine Vorstellung besucht und unseren Fragebogen dazu ausgefüllt. Abschließend teilt der Schweizer Autor Lucien Haug die Gedanken hinter seinem Stück ÜBER NACHT, das sich sozialkritisch, skurril und frech mit dem Thema Träume befasst. Die Österreichische Erstaufführung des Stücks für junges Publikum ab 14 Jahren ist am 02.04.23 im Burgtheater Vestibül.
Bleiben Sie wach und uns gewogen – wir freuen uns auf Sie.
Anika Steinhoff & Victor Schlothauer (Dramaturgie)