Schreibweisen #6: Entfesselte Phantasie

Schreibweisen
von Sabrina Zwach Lesedauer 6 Minuten

Schreibweisen gibt es so viele, wie es Autor*innen gibt. In dieser Rubrik geben Dramatiker*innen Einblick in ihre Arbeitsprozesse. Dieses Mal haben wir Sabrina Zwach, Dramaturgin und Bearbeiterin von Stücktexten für Herbert Fritsch, um einen Einblick in die gemeinsame Arbeit gebeten. DIE GEFESSELTE PHANTASIE von Ferdinand Raimund kommt in Sabrina Zwachs Fassung und in Herbert Fritschs Regie am 29. März 2023 zur Premiere im Burgtheater.

Maria Happel in einem gelben Probenkostüm neben Regisseur Herbert Fritsch mit einer Krone auf dem Kopf.
© Marcella Ruiz-Cruz
Schreibweisen gibt es so viele, wie es Autor*innen gibt. In der neuen Rubrik geben Theatermacher*innen Einblicke in ihre Arbeitsprozesse. Wie entsteht ein neues Stück?

DIE GEFESSELTE PHANTASIE ist eine von acht Zauberpossen aus der Feder des Dramatikers, Schauspielers und Regisseurs Ferdinand Raimund, vielleicht die ambitionierteste und unbekannteste. Gefragt, wie sich mein Schreiben für die Inszenierungen von Herbert Fritsch gestaltet, möchte ich mit einer Definition beginnen, die nicht mich, sondern eher den Regisseur beschreibt.

 

Intuition
f. Eingebung, ahnendes Erfassen, Erkenntnis ohne wissenschaftliche Einsicht, entlehnt (18. Jh.) aus lat. „Intuitio“ das Erscheinen des Bildes im Spiegel, spätlat. geistiges Schauen, daher durch Schauen (nicht durch Denken) erworbene Kenntnis; zu lat. „intuērī“ genau auf etwas hinsehen, etwas geistig betrachten.

intuitiv
Adj. gefühlsmäßig, instinktiv erfassend, auf Eingebung.

Wörterbuch der Deutschen Sprache

Seit achtzehn Jahren schreibe ich für das Theater von Herbert Fritsch, arbeite ich als Dramaturgin für seine Inszenierungen. Achtzehn Jahre, da denke ich entweder an die Aufzucht eines Kindes oder an die Reife von Whiskey; egal, in welche Richtung ich denke, es ist eine lange, ereignisreiche Zeit. Angefangen hat alles mit „hamlet_X“, dem crossmedialen Kunstprojekt von Herbert Fritsch, das er in Berlin realisierte, als er noch Schauspieler im Ensemble der Volksbühne von Frank Castorf war. Über fünfzig Kurzfilme, ein Künstlerbuch, eine „Hamlet“-Verfilmung in Kinolänge, für die ich das Drehbuch geschrieben habe – die Zeitung schrieb, der Film würde aussehen, als hätte Buñuel auf LSD gedreht –, und mehrere Installationen entwickelten wir in den 2000er Jahren. Dann beendete Herbert Fritsch seine erfolgreiche Schauspiel-Karriere und begann seine nächste, als Regisseur und Bühnenbildner.

Ich schreibe in der Regel die Fassungen, übersetze und bearbeite, vornehmlich, aber nicht ausschließlich, Komödien. Fast immer bin ich dann im weiteren Verlauf der Arbeit auch die Produktionsdramaturgin. Ich schreibe die Texte über die Inszenierungen, die Porträts über Herbert Fritsch und seine Arbeit, ich erfinde Interviews, die wir nie geführt haben: ein Traum!

Ja, tatsächlich ein Traum, weil es einerseits einfach Spaß macht. Und andererseits, weil der Traum eben nicht intellektuell, nicht diskursiv, nicht vorbereitet, nicht ideologisch ist, weil Träume gewöhnlich als sinnlich-lebendiges, halluzinatorisches Geschehen beschrieben werden und das auch die Beschreibung einer Inszenierung von Herbert Fritsch sein könnte. Oder anders gesagt: Herbert Fritsch ist ein Meister der Intuition.

Das Schreiben unterscheidet sich davon wesentlich. Mein Schreibprozess ist nicht intuitiv. Mein Schreibprozess ist diskursiv, ist intellektuell, im Bewusstsein, dass ein Text für eine Inszenierung entsteht, die traumtänzerisch über die Dialoge gleiten wird, im Bewusstsein, dass der Regisseur sich nicht in erster Linie für den Text interessieren wird, sondern den Text als eine von vielen Komponenten sehen, intuitiv mit Worten und Inhalten umgehen wird. Theater ist nicht die Unterabteilung der Literaturwissenschaft oder angewandte Textinterpretation. In Fritschs Kosmos kommt einiges zusammen und in diesem Verständnis gehe ich meinen Teil der Arbeit an.

Meines Erachtens muss man kein ernstes Gesicht machen, um ernst zu sein, und macht einen Fehler, indem man das Komische bagatellisiert.

Ziemlich zu Beginn unserer Zusammenarbeit standen Herbert Fritsch und ich gemeinsam – nur wir beide – auf der Bühne. „ANGST – ein performatives Konzert über den schlechtesten Berater unserer Zeit“ war Herberts Inszenierung, ich habe meine Texte geschrieben und versucht, durch den Abend zu führen, Herbert Fritsch hat sich lediglich an Szenenüberschriften orientiert und seinen Text jeden Abend neu entwickelt. Im „Tagesspiegel“ (24.11.2007) stand, es werde eine „Internationale der Phobien“ beschworen. „Sabrina Zwach moderiert mit Hasenzähnen eine 90-minütige Zitter-Party, die hemmungslos assoziativ und radikal selbstreflexiv die Angst des Schauspielers vor dem Verschwinden beleuchtet.“ Das Ganze sei: „Erschreckend gut“. Unmittelbar habe ich – in 60 Vorstellungen – die Intuition, das Wissen über das Existieren auf der Bühne, das Herbert Fritsch hat, zu spüren bekommen, und ein anderes, neues Verständnis von Text erfahren.

Der Schreibprozess an und für sich ist immer ähnlich und nicht erzählenswert. Er ist einsam, von großer Freude und Glückseligkeit geprägt, von Verzweiflung, Motivationslöchern und am Ende von Zeitdruck, weil eine Deadline mit irgendeiner Partei – dem Theater oder einem Verlag – vereinbart wurde. Das Besondere am Schreiben für die Inszenierungen von Herbert Fritsch ist, dass es durch ihn keinerlei Beschränkungen oder Vorgaben im Denken gibt. Die meist historischen Texte bleiben historisch, es finden keine Modernisierungen statt, es werden keine tagespolitischen Bezüge eingefügt, und doch werden die Texte verändert. Spuren werden beseitigt, die den Text zu eindeutig – in Ort, Zeit oder Lesbarkeit – machen. Die historischen Stoffe werden vorsichtig aufpoliert, verkehrstauglich gemacht oder etwas beschleunigt. Figuren verschwinden oder es kommen welche dazu.

Herbert Fritsch liest meine Fassungen oft nicht vor dem Probenstart. Er lässt sich überraschen. Für meine Bearbeitung und Übersetzung von „Macbeth“ am Neuen Theater in Halle 2010 gab es dazu ein Interview:

SABRINA ZWACH
Also, warum machst du MACBETH?

HERBERT FRITSCH
Die Frage stelle ich mir nie. Ein Stück ist eine Spielregel. Die Schauspieler*innen stehen auf dem Spielfeld und spielen nach dem jeweiligen Regelwerk und dann kommt etwas raus, was vorher nicht im Stück stand. Das ist doch völlig egal, welches Stück ich mache, aber bei MACBETH gibt es eine hohe Zahl von Buchstaben und Wörtern, die mich einfach treffen, fertig! Und deine Übersetzung habe ich mir bei der Leseprobe vorlesen lassen und an der Art, wie die Schauspieler*innen es gelesen haben, wusste ich, dass der Text gut ist und mich treffen wird. Bei einem anderen Ensemble hätte mich dein Text vielleicht überhaupt nicht gejuckt!

Herbert Fritsch inszeniert den Text und gleichzeitig immer das Weiße um die Buchstaben herum. Er trifft den Kern, obwohl er keine Inszenierungs- Konzeptionen entwickelt. Er ist ein Intuitionskünstler.

Für das Theater in Bremen sollte ich eine Fassung von „Die Nibelungen“ schreiben. Brunhild und Kriemhild hatten es mir angetan. In der Vorbereitung sagte Herbert Fritsch zu mir: „Die Brunhild kommt aus Island. Vielleicht solltest du einfach mal dorthin fahren?“ Ich bin dann nach Island gefahren. Dafür bin ich dem Regisseur bis heute dankbar. Die Fassung hat unter der Reise weder gelitten noch durch sie gewonnen. Aber die Intuition, die nicht meine war, war ein wesentlicher Impulsgeber.

Meine Schreibweise für Herbert Fritschs Inszenierungen ist außerdem geprägt von dem Wissen, dass ein Ensemble den Text sprechen, singen und tanzen wird. Herbert Fritschs Inszenierungen sind Ensemblearbeiten, sind schauspielerisch-artistische Hochleistungen, huldigen der Schauspielkunst, sind immer Musiktheater, manchmal auch Ballette. Sie sind bunt und oft komisch. Wenn Personen Komisches erfinden, werden sie oft nicht ernst genommen, weil Ernst und Komik als Gegensatzpaar gelten. Die Überschriften der Kritiken lauten dann auch: „Kinder, ist das lustig“, oder „Ein Sack voller Knallfrösche“ oder „Action Acting und Apfelsaft“ oder „Irre ins Unbekannte starren“. Der Text als solcher oder die Fassungen werden oft genauso betrachtet. Meines Erachtens muss man kein ernstes Gesicht machen, um ernst zu sein, und macht einen Fehler, indem man das Komische bagatellisiert.

Wenn unsere Arbeit das achtzehnjährige Kind wäre, dann wäre es viel herumgekommen und hätte einen Glaubenssatz konsequent gehört: Kunst ist die Lösung all deiner Probleme.

Für die Oper in Basel durfte ich das Libretto von Schostakowitschs „Die Nase“ nach Nikolai Gogol für Herbert Fritschs Inszenierung 2022 bearbeiten. Erstmals war die Nase eine Frau. Einfach weil es „Die Nase“ heißt und weil ich es im Verlauf der Handlung lustig fand, dass ein Mann seine Nase verliert, die sich verselbständigt und als weibliche Nasen-Figur wieder auftaucht und ihm das Leben schwer macht. Hubert Wild interpretierte die Nase als weiblich gelesene Figur. Der für mich große und aufregende Umbau blieb weitestgehend unbemerkt. Das gehört eben auch zum Schreibprozess, dass man sich allein freut, und die Arbeit unsichtbar ist. Kommen wir also zurück zu den achtzehn Jahren; wenn unsere Arbeit ein Whiskey wäre, dann wäre er schottisch und torfig und womöglich wäre ein bisschen Zuckercouleur darin. Wenn unsere Arbeit das achtzehnjährige Kind wäre, dann wäre es viel herumgekommen und hätte einen Glaubenssatz konsequent gehört: Kunst ist die Lösung all deiner Probleme.

Ein Porträtbild der Dramaturgin Sabrina Zwach in farbe.
Sabrina Zwach
© Philip Frowein

Sabrina Zwach

studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis. Sie arbeitete als leitende Dramaturgin des Zürcher Theaterspektakel, war für zwei Jahre als Dramaturgin der „Internationalen Show“ von Kurt Krömer (rbb) tätig, und von 2008 bis 2011 übernahm sie die Leitung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz. Sie arbeitete als freie Dramaturgin, Autorin und Produzentin für Regisseur*innen wie Herbert Fritsch, Angela Richter und Ersan Mondtag, Antú Romero Nunes, Robert Borgmann, Anne Lenk und Mateja Koležnik. Ab der Spielzeit 2017/2018 arbeitete Sabrina Zwach als Dramaturgin am Berliner Ensemble, bis 2021 am Burgtheater.

Zum Stück
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