Trugbild und Erzählung
Der Schweizer Autor Lucien Haug, dessen Stück ÜBER NACHT in der Regie von Rachel Müller am 2. April 2023 im Vestibül zur Österreichischen Erstaufführung kommt, schreibt darin für ein junges Publikum ab vierzehn Jahren über den Zusammenprall von Wünschen und Alltagsrealität, Träumen und Kapitalismus. In diesem Text für das Burgtheater Magazin schildert er, was ihm beim Schreiben im Kopf herumging.
„DREAM BIG“ ruft eines der mächtigsten Schweizer Unternehmen regelmässig von Plakatwänden herab. Eine Aufforderung, so traurig wie unbeholfen, so rüde wie verzweifelt. Und verwirrlich, schliesslich glauben soziale Marktwirtschaften doch eigentlich daran, den Pathos des unwahrscheinlichen dreams und das Wunder seiner Erfüllung abgelöst zu haben durch die nüchterne Abwicklung unveräusserlicher Rechte. Zugegeben, ein schöner Gedanke ist dies allemal, die Hoffnung endlich überflüssig werden zu lassen, und den Traum als das, was er ist zu enthüllen: Ein Trugbild. Vielleicht hat aber der Grosskonzern einen besseren Spürrüssel, als wir ihm zugestehen wollen. Denn auch auf einem mutmasslichen Höhepunkt der sozialen Mobilität ist für viele Menschen in Mitteleuropa der Zufall der Geburt einschneidender als alle Lebensentscheidungen, das morgendliche Erwachen realer als aller Schlaf. Und die Furcht bleibt begründet, nicht die Grösse der Träume könnte über Glück und Unglück bestimmen, sondern schlicht die Möglichkeit und Unmöglichkeit, sie sich selbst zu erfüllen. Diese Furcht wird bereits in jungen Jahren genährt, wenn man Freund*innen, die einem im Kindergarten noch ans Herz gelegt werden, verliert. Und dies nur, weil sie auf eine andere Schule gehen müssen, dann andere Berufe erlernen möchten, um andere Hobbies entwickeln zu dürfen, in anderen Bars sitzen zu wollen und – von anderen Dingen träumen zu können.
ÜBER NACHT in der Regie von Rachel Müller kommt am 02.04.2023 zur Österreichischen Erstaufführung im Burgtheater Vestibül.
Das erlebt auch Sam, die Hauptfigur in ÜBER NACHT. Sam ist eine sehr erwachsene Jugendliche: Der Vater hat sich längst verdünnisiert, die Mutter hat gerade ihre Arbeit verloren und der kleine Bruder ist aufmerksamkeitsintensiv. Für Sam stellt sich die Frage, ob sie gemäss ihren schulischen Leistungen das Gymnasium besuchen oder doch lieber, der Familie zuliebe, eine Berufslehre absolvieren soll. Im echten Leben ist da also vor lauter Verantwortungsgefühl nicht viel Zeit fürs Träumen übrig, und so produziert ihr Hirn des Nachts das, was ein Traum eben auch ist: Eine Erzählung.
Doch Sams Träume haben die Angewohnheit, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und so alle Grenzen des Bewusstseins zu überschreiten. Die Trugbilder beginnen, sich in die Erzählung einzumischen, die Sam im echten Leben zu entgleiten droht. Sind Sams Wünsche Fiktionen, die die Wirklichkeit gar nicht verdient haben? Über wie viel Autonomie verfügt jemand mit beschränkten finanziellen Mitteln? Was sind eigentlich meine Träume und was die der anderen? Inmitten all der Gestalten, die Sams Geist kreuzen und sie schier ins Chaos zu stürzen drohen, versucht sie zu hören, was sie sich selbst zu erzählen hat: Etwas Grosses.
Lucien Haug
*1992, schreibt Theaterstücke und Prosa. Seine Stücke wurden und werden u. a. am Schauspielhaus Zürich, am Theater Basel, am Maxim Gorki Theater und im Burgtheater Vestibül gespielt. Eine lange Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem jungen theater basel. Er ist Innenverteidiger des Schweizerischen Schriftsteller*innen-Fussballnationalteams, Host des Literaturpodcasts eins.sieben.drei und arbeitet als Theaterregisseur.