Wer hat den Menschen ersonnen?
Am 18. März 2023 brachte das britisch-irische Regie- und Autorenduo Dead Centre seine vierte Arbeit für das Burgtheater im Akademietheater zur Uraufführung: KATHARSIS. Dafür haben sich Ben Kidd und Bush Moukarzel von Olga Tokarczuks Fragmentroman „Unrast“ inspirieren lassen – und wagen auf dessen Spuren einen Blick in die menschliche Anatomie. Wir präsentieren einen Auszug aus „Unrast“ als Fundstück.
Das Ziel einer Pilgerfahrt ist ein anderer Pilger. Diesmal einer aus Wachs. Wien, Josephinum. Eine Sammlung frisch renovierter anatomischer Wachsfiguren. An diesem regnerischen Sommertag hatte außer mir noch ein Reisender hierher gefunden, ein Mann mittleren Alters mit weißen Haaren und Drahtbrille. Aber er interessierte sich nur für ein Modell, dem er sich eine Viertelstunde lang widmete, um dann mit einem unergründlichen Lächeln auf den Lippen zu verschwinden. Ich wollte länger bleiben, hatte Notizbuch und Apparat dabei und sogar Koffeinbonbons und Schokoriegel in der Tasche.
Langsam, um nur kein Exponat auszulassen, wanderte ich zwischen den gläsernen Schaukästen umher.
Modell 59. Ein Zweimetermann, gehäutet. Sein Körper aus Muskeln und Sehnen hübsch gewebt, wie ein Spitzenstoff. Auf den ersten Blick ist es ein Schock, wahrscheinlich eine ganz instinktive Reaktion: Der Anblick eines Körpers ohne Haut tut an sich schon weh, er sticht und brennt, wie in Kindertagen ein aufgeschürftes Knie. Das Modell hält den einen Arm nach hinten, die rechte Hand jedoch hat es erhoben und beschirmt in der anmutigen Haltung antiker Skulpturen die Augen, als blicke es gegen die Sonne in die Ferne. Diese Geste kennen wir von Gemälden – so schaut man in die Zukunft. Modell 59 könnte auch im nahe gelegenen Kunstmuseum stehen, ich verstehe eigentlich nicht, warum es in das verschämte Anatomiemuseum verbannt ist. Es müsste in der bedeutendsten Kunstgalerie stehen, denn es ist auf zweifache Weise ein Kunstwerk: zum einen als geniale Wachsskulptur (zweifellos die höchste Stufe naturalistischer Kunst), zum anderen als Konzept. Wer ist der Urheber?
Die Lymphgefäße könnten Juwelieren als Muster dienen.
Modell 60 stellt auch Muskeln und Sehnen dar, aber hier ist es vor allem das sanfte Band der perfekt proportionierten Gedärme, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auf ihrer glatten Oberfläche spiegeln sich die Fenster des Museums.
Danach kommen Arme, Beine, Mägen und Herzen. Jedes Modell ist sorgfältig auf ein perlmuttern schimmerndes Stück Seide gebettet. Die Nieren wachsen wie zwei Anemonen aus der Harnblase. „Die unteren Organe und ihre Blutgefäße“, steht in drei Sprachen angeschrieben. Das Lymphsystem im Unterbauch, verschlungene Knoten, Sternchen, Broschen, mit denen eine unbekannte Hand die Einförmigkeit der Muskeln verziert hat. Die Lymphgefäße könnten Juwelieren als Muster dienen.
An einer zentralen Stelle in dieser Wachsfigurenkollektion ruht Modell 244. Das schönste von allen, das den Mann mit der Drahtbrille so interessiert hat und gleich eine halbe Stunde lang meine Aufmerksamkeit fesseln wird.
Es ist eine liegende Frau, fast vollständig dargestellt. Nur an einer Stelle hat man in ihren Körper eingegriffen: Der offene Bauch zeigt uns, den Pilgern, die unter das Zwerchfell gezwängten Fortpflanzungsorgane, die Gebärmutter in der Klammer der Eierstöcke. [...] Der Schamhügel ist penibel mit Haarimitat bedeckt, und weiter unten ist sorgfältig eine Scheidenöffnung eingefügt, die nur die Ausdauernden erspähen werden, die auf Höhe der zarten, mit rosigen Zehen bestückten Füße in die Hocke gehen, wie es der Mann mit Drahtbrille getan hat. „Gut, dass der weg ist“, denke ich, „jetzt bin ich an der Reihe.“
Welcher Muskel war das, der mir die Kehle zuschnürte, wie war noch sein Name?
Die Frau hat langes blondes Haar, ihre Augen sind halb geschlossen, der Mund leicht geöffnet, der Rand ihrer Zähne ist sichtbar. Um den Hals trägt sie eine Perlenkette. Mich frappiert die absolute Makellosigkeit ihrer glatten, seidigen Lungenflügel gleich unter der Perlenkette, nie wurden sie von Zigarettenrauch verunreinigt. Es könnte die Lunge eines Engels sein. Das Herz ist quer durchgeschnitten und offenbart so seine Doppelnatur: Beide Kammern sind mit rotem samtigem Gewebe ausgekleidet, wie geschaffen für das monotone Pulsieren. Die Leber legt sich als große blutige Lippen um den Magen, man sieht auch die Nieren und die Harnwege, die an eine gegen die Gebärmutter gelehnte Alraunenwurzel erinnern. Die Gebärmutter ist ein lieblich anzusehender Muskel, schlank und wohlgeformt, man kann sich kaum vorstellen, dass sie durch den Körper wandert und Hysterien hervorruft, wie man früher glaubte. Man sieht hier ganz deutlich, dass die Organe gut verpackt im Körper liegen wie für eine lange Reise. Auch die längs durchgeschnittene Vagina enthüllt ihr Geheimnis, ein kurzer Tunnel, der plötzlich aufhört und sich als völlig nutzlos erweist, sie ist gar kein Eingang ins Körperinnere. Sie hört mit einer abgeschlossenen Klammer auf.
Erschöpft ließ ich mich auf einer harten Bank am Fenster nieder, der schweigenden Versammlung der Wachsfiguren gegenüber, und Wogen der Rührung stiegen in mir auf. Welcher Muskel war das, der mir die Kehle zuschnürte, wie war noch sein Name? Wer hat den menschlichen Körper ersonnen – und wer hat auf ihn das Copyright?
Olga Tokarczuk: „Unrast“. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Kampa Verlag, Zürich 2019
Olga Tokarczuk
1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten europäischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. KATHARSIS von Dead Centre nach Geschichten aus Olga Tokarczuks „Unrast“ ist im April und Mai im Akademietheater zu sehen.