EDITORIAL #15
Wovon sind Menschen geprägt, wovon eingeschränkt? Was beeinflusst und was korrumpiert sie? Wodurch werden sie auf die Probe gestellt und unter welchen Umständen wachsen sie über sich hinaus? Und wer bestimmt das?
Verehrtes Publikum!
„Wenn Tugend und Gerechtigkeit / Den grossen Pfad mit Ruhm bestreut; / Dann ist die Erd‘ ein Himmelreich, / Und Sterbliche den Göttern gleich“, heißt es in Mozarts Zauberflöte. Das utopische Versprechen in dieser Oper ist an die Formulierung hehrer Ideale geknüpft. Der leuchtenden Utopie einer Welt, in der „Mensch den Menschen liebt“ steht die Möglichkeit gegenüber, tief zu fallen: „Wen solche Lehren nicht erfreu‘n, / Verdienet nicht ein Mensch zu seyn“, spricht der Hohepriester Sarastro. Was für ein rätselhaftes Wesen, als das „der Mensch“ hier charakterisiert wird; mit einem Potential, sich überallhin zu entwickeln, von Göttergleichheit bis zur Aberkennung der eigenen Menschlichkeit. In den verbleibenden Premieren dieser Spielzeit – und den neuesten Stücken im Repertoire – rühren wir immer wieder an die Frage, welches Maß sich tatsächlich an menschliches Handeln anlegen lässt. Wovon sind Menschen geprägt, wovon eingeschränkt? Was beeinflusst und was korrumpiert sie? Wodurch werden sie auf die Probe gestellt und unter welchen Umständen wachsen sie über sich hinaus? Und wer bestimmt das?
Tena Štivičićs Theaterepos DREI WINTER, das in der Regie von Martin Kušej am 22. April 2023 zur Premiere im Burgtheater kommt, erzählt über mehrere Generationen hinweg eine Familiengeschichte in Zagreb, wobei die private Geschichte untrennbar mit der Geschichte Kroatiens verwoben ist. Unmöglich, dass die politische Geschichte sich nicht auf jedes individuelle Schicksal auswirkt – und umgekehrt. Für diese Magazinausgabe hat die Historikerin und Politikberaterin Marie-Janine Calic einen Beitrag über Kroatien im Jahr 2023 geschrieben und über die geschichtlichen Traumata, die der Ukrainekrieg in Erinnerung ruft.
Für das Kasino am Schwarzenbergplatz erarbeiten Nils Strunk, Lukas Schrenk und das Ensemble eine Neuinterpretation der ZAUBERFLÖTE frei nach Mozart und Schikaneder. Eine lustvolle, musikalische Reflektion über den Zauber der Bühne und die Kraft des Miteinanders, die am 6. April 2023 Premiere feiert. Ensemblemitglied, Regisseur und Musiker Nils Strunk teilt in diesem Magazin eine Playlist der Musik, die diese Arbeit inspiriert hat.
Auch in KATHARSIS, der jüngsten Arbeit des Regie- und Autorenduos Dead Centre im Akademietheater hat Mozart seinen Auftritt. Josephine Soliman, Tochter des „berühmtesten Schwarzen Menschen im Wien des 18. Jahrhunderts“ Angelo Soliman, bittet den Komponisten in einem fiktiven Gespräch um Unterstützung bei ihrer Mission, den Leichnam ihres Vaters zurückzufordern, der im Naturalienkabinett des österreichischen Kaisers Franz II. ausgestellt wurde. Dazu können Sie einen Auszug aus dem Roman „Unrast“ von Olga Tokarczuk lesen, auf dessen Grundlage die Arbeit von Dead Centre entstanden ist.
Die Sozialanthropologin, Künstlerin und Aktivistin Anahita Neghabat hat eine Vorstellung von DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT nach dem Roman von Maria Lazar besucht und dazu unseren Fragebogen ausgefüllt. Den Roman über Wunderglauben in einem österreichischen Dorf am Vorabend des Faschismus hat die Regisseurin Lucia Bihler für das Akademietheater inszeniert und wurde damit zum Berliner Theatertreffen 2023 eingeladen.
Im selben historischen Augenblick wie DIE EINGEBORENEN spielt auch Ödön von Horváths KASIMIR UND KAROLINE, dessen Inszenierung durch Mateja Koležnik am 24. März 2023 fulminant zur Premiere im Burgtheater kam. Die Künstlerin Lisa Rastl hat eine Probe besucht und davon angeregt ein Kunstwerk für die Rubrik Bilder vom Theater angefertigt.
Das Burgtheaterstudio wirft in diesem Heft einen Blick zurück auf die Präsentationen der Jungen Akademie, deren Arbeiten zum Spielzeitmotto „Geister“ im Februar zur Aufführung kamen.
Und für dieses Magazin hat Julia Kemperman Illustrationen inspiriert von unseren Premieren im Frühjahr gezeichnet.
Von Mozarts ZAUBERFLÖTE über die Zeitsprünge in DREI WINTER bis hin zum düsteren Oktoberfestrummel, auf dem KASIMIR UND KAROLINE spielt – viele der Inszenierungen, die im Frühjahr auf dem Spielplan des Burgtheaters stehen, thematisieren die Gestaltungskraft der Fantasie und böten Potential für Budenzauber. Und in ihnen zeigt sich, dass nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die menschliche Vorstellungskraft, unsere Träumen und Sehnsüchte, von Politik und Geschichte durchdrungen sind.
Wir wünschen Ihnen anregende Theaterabende.
Jeroen Versteele & Victor Schlothauer (Dramaturgie)