Kroatien 2023
GESCHICHTEN UND GEGENWART
DREI WINTER – ein Theaterepos von Tena Štivičić, das am 22. April 2023 Premiere im Burgtheater feiert – erzählt eine Familiengeschichte durch das Brennglas dreier historischer Momente in der Geschichte Kroatiens. Jede private Handlung ist politisch – und Politik beeinflusst die persönlichen Entscheidungen und Schicksale.
Für das Burgtheater Magazin beschreibt die Historikerin und Politikberaterin Marie-Janine Calic Kroatien im Jahr 2023 und die historischen Spuren, die wichtig sind, um die Gegenwart zu verstehen.
Kroatien ist das jüngste Mitglied der Europäischen Union. Zehn Jahre nach dem Beitritt hat es Anfang 2023 den Euro als Landeswährung eingeführt. Das Land an der Adria ist zugleich der grenzkontrollfreien Schengenzone beigetreten. Beides soll vor allem dem Tourismus helfen, Kroatiens wichtigstem Wirtschaftszweig. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik wurde 1991 unabhängig, und die Menschen freuen sich, heute eng in die europäischen Strukturen integriert zu sein.
Während die meisten Kroat*innen die Einführung des Euro grundsätzlich begrüßen, fürchten viele, dass es nun zu Preiserhöhungen kommt. Bereits die globale Finanzkrise hatte eine schwere Rezession ausgelöst. Nach kurzer Erholungsphase erzeugte die Corona-Pandemie neue sozialökonomische Verwerfungen. Im Jahr 2020 nahm die Wirtschaftsleistung um mehr als acht Prozent ab; nur in Griechenland, Spanien und Italien war der Einbruch noch tiefer. Während sich die wirtschaftliche Lage mittlerweile wieder weitgehend normalisiert hat, steht das Land angesichts des Ukrainekrieges allerdings vor neuen Herausforderungen.
DIE FOLGEN DES UKRAINEKRIEGS
Kroatien hat den russischen Angriff scharf verurteilt und trägt auch die von den USA und der EU verhängten Sanktionen mit. Das Land zeigt sich solidarisch und hat bereits mehr als 20 000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Am Jahrestag des russischen Angriffs wurde am Parlament und an den Regierungsgebäuden die ukrainische Flagge gehisst. Wie überall in Europa sind jedoch die Verbraucherpreise stark gestiegen; zudem blieben die meisten der 2022 erwarteten russischen Tourist*innen weg. Die Beeinträchtigungen bei der Energieversorgung sind hingegen schwächer als in anderen europäischen Ländern. 2021 ging bei der Insel Krk ein Terminal für Flüssigerdgas (LNG) in Betrieb, so dass nur wenig mehr als ein Viertel des in Kroatien verbrauchten Erdgases aus Russland bezogen wird.
„Der Krieg hat mehr als 10 000 Menschen das Leben gekostet; an die 3 000 Personen wurden vermisst, Zehntausende blieben entwurzelt.
Bis heute sind die praktischen Kriegsfolgen noch nicht voll bewältigt, und auch politisch, juristisch und psychologisch ist das Geschehen nur unzureichend aufgearbeitet.“
Vor allem weckt der russische Angriff auf die Ukraine böse Erinnerungen an den jugoslawischen Zerfallskrieg. Nachdem sich Kroatien am 25. Juni 1991 unilateral für unabhängig erklärt hatte, rebellierte die serbische Minderheit. Irreguläre serbische Streitkräfte brachten im Verein mit der Jugoslawischen Volksarmee in wenigen Wochen ein Drittel Kroatiens unter Kontrolle. Sie vertrieben etwa eine halbe Million Menschen und riefen die Republik Serbische Krajina aus. Nach sechsmonatigen Kampfhandlungen wurde Kroatien am 15. Januar 1992 von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft als souveräner Staat anerkannt. Es kam zum Waffenstillstand, aber ein Teil das Landes blieb besetzt. UNO-Blauhelmtruppen sollten den Frieden sichern und eine politische Lösung vermitteln, wozu es aber nicht kam. 1995 hat die kroatische Armee in der Operation „Gewitter“ die umstrittenen Regionen zurückerobert, den serbischen Parastaat zerschlagen und mehr als 150 000 Serben aus Kroatien vertrieben. Mit dem Abzug der letzten Blauhelme war erst 1998 die Territorialhoheit wieder vollständig hergestellt. Der Krieg hat mehr als 10 000 Menschen das Leben gekostet; an die 3 000 Personen wurden vermisst, Zehntausende blieben entwurzelt. Bis heute sind die praktischen Kriegsfolgen noch nicht voll bewältigt, und auch politisch, juristisch und psychologisch ist das Geschehen nur unzureichend aufgearbeitet.
Das offizielle Kroatien betrachtet den so genannten „Heimatkrieg“ der neunziger Jahre als nationalen Einigungskrieg und staatliches Gründungsereignis. Obwohl die ehemalige jugoslawische Teilrepublik nur etwa 4 Millionen Einwohner*innen zählt, ist sie so vielseitig wie kaum ein anderes europäisches Land. Die jahrhundertelange Fremdherrschaft verschiedener Mächte hat unterschiedlichste Kultureinflüsse wirken lassen. Die Gegend um Zagreb sowie Nord- und Ostkroatien ist österreichisch-ungarisch geprägt, an der Küste, in Dalmatien und Istrien, erkennt man die enge Verflechtung mit Kultur und Geschichte Venedigs. Zudem gibt es historisch gewachsene regionale Identitäten, die auch die politische Kultur prägen. Auf dem Wappen der Nationalflagge sieht man über dem weiß-roten Schachbrettmuster fünf Symbole, die für das zentralkroatische Zagorje, die ehemalige Kaufmannsrepublik Dubrovnik sowie für Dalmatien, Istrien und Slawonien stehen. Die etwa siebzigjährige Zugehörigkeit zum Vielvölkerstaat Jugoslawien wollen national denkende Kroat*innen am liebsten ungeschehen machen. Sie berufen sich lieber auf das Mittelalter, als einst das kroatische Königreich eine angesehene Regionalmacht war.
POLITISCHE SPALTUNGEN
Dem Traum nationaler Größe hängen vor allem die national-konservativen Kräfte an, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus bei den ersten Parlamentswahlen die Mehrheit erzielten. Alleinregierende Partei wurde 1990 die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ), die der ehemalige General der Jugoslawischen Volksarmee und Historiker Franjo Tudjman gegründet hatte. Als erster Präsident hat er das unabhängige Kroatien ein Jahrzehnt lang mit autoritärem Führungsstil regiert. Nach seinem Tod 1999 siegte im Folgejahr bei den Parlamentswahlen eine Mitte-Links-Koalition. Die kroatische Verfassung wurde geändert und die übergroße Machtfülle des Präsidenten eingeschränkt. Kroatien schlug daraufhin einen entschiedenen Europäisierungs- und Reformkurs ein, der 2013 mit dem EU-Beitritt belohnt wurde.
Bis heute ist Kroatien in zwei etwa gleich starke weltanschauliche Lager gespalten, die sich an der Regierung abwechseln. Auf der einen Seite stehen konservative, katholische und national orientierte Kräfte, auf der anderen links-liberale und sozial-demokratische. Zudem haben sich etliche kleinere Parteien und Interessengruppen etabliert, die bei den Parlamentswahlen zum Zünglein an der Waage werden. Innenpolitisch steht Kroatien dabei in letzter Zeit vor ähnlichen Herausforderungen wie viele andere EU-Staaten: populistische Euroskeptiker sowie ultrakonservative, nationalistische und rechtsextreme Kräfte sind auf dem Vormarsch. Man findet sie nicht nur in politischen Parteien, wie der so genannten „Heimatbewegung“, sondern auch unter Intellektuellen, in den sozialen Medien und in der Popkultur.
Die politisch-weltanschauliche Spaltung spiegelt sich zum Beispiel auch in der Haltung zum Ukrainekrieg wieder. So hat sich der sozialdemokratische Präsident Zoran Milanović wiederholt gegen westliche Waffenlieferung in die Ukraine ausgesprochen, und zwar gegen die regierende HDZ, die mit Andrej Plenković seit 2016 den Ministerpräsidenten stellt. Das kroatische Parlament stimmte in diesem Jahr auch gegen die Ausbildung ukrainischen Militärs in Kroatien.
GESCHICHTSREVISIONISMUS
Die ideologischen Gräben durchziehen nicht zuletzt die öffentlich ausgetragenen Geschichtsdebatten, die um die Zeit des Zweiten Weltkrieges und das sozialistische Jugoslawien toben. Rechtsgerichtete Politiker, Emigranten und Intellektuelle relativieren die Deutung des Zweiten Weltkrieges, indem sie die faschistischen Ustascha rehabilitieren, die zur Zeit des Zweiten Weltkrieges den so genannten „Unabhängigen Staat Kroatien“ regierten. In dem staatlichen Gebilde von Hitlers Gnaden wurden Serb*innen und Jüdinnen und Juden ebenso wie Oppositionelle unterschiedlicher Couleur massenhaft ermordet oder vertrieben. Allein im Konzentrationslager Jasenovac kamen mehr als 80 000 Menschen ums Leben.
„Sage mir, wie du zu Tito stehst, und ich sage dir, was du bist!“
Jugoslawien ist das einzige europäische Land, dessen multinationale Partisanen die fremde Besatzung aus eigener Kraft abgeschüttelt haben, was zum Gründungsmythos des sozialistischen Staates nach 1945 wurde. Der kroatische Kommunist Josip Broz Tito prägte das Motto „Brüderlichkeit und Einheit“, kämpfte zugleich aber einen furchtbaren Bruderkrieg gegen die kroatischen Ustascha, serbischen Tschetniks und andere Kollaborateure. Im Frühjahr 1945 wurden die mit der Wehrmacht fliehenden „Quislinge“ im Kärntner Bleiburg massenhaft liquidiert. Nationalistische Kräfte bezeichnen das Ereignis als „kroatischen Holocaust“, und ein ehemaliger Kultusminister der HDZ bezeichnete die Niederlage der Ustascha 1945 sogar als „nationale Tragödie“. Veteranenverbände und katholische Kirche wollen nichtsdestoweniger sogar den faschistischen Ustascha-Gruß „Za dom – spremni!“ (Für die Heimat – bereit) wieder in der Armee einführen. Der von offizieller Seite propagierte Geschichtsrevisionismus hat die Jüdische Gemeinde veranlasst, die Gedenkveranstaltungen zur Befreiung des KZ Jasenovac wiederholt zu boykottieren. Bis heute spukt ein völkischer Nationalismus herum, der Minderheiten das Leben schwer macht und die Aufarbeitung der Vergangenheit behindert.
TITOSTALGIE
Unter Präsident Tudjman hatten tausende Straßen und Plätze, die an den „Volksbefreiungskrieg“ erinnerten, neue Namen erhalten, und ein Großteil der Partisanendenkmäler wurde geschleift. Tausende haben erfolglos demonstriert, als der Stadtrat von Zagreb nach jahrelangem Tauziehen 2017 beschloss, den repräsentativen Tito-Platz in „Platz der Republik Kroatien“ umzubenennen. Der langjährige jugoslawische Staatspräsident und Frontmann der Blockfreienbewegung Josip Broz Tito ist eine Figur, die bis heute die politischen Lager spaltet. „Sage mir, wie du zu Tito stehst, und ich sage dir, was du bist!“, hört man heute oft, wo einst Jugoslawien war.
„Der Brain-Drain hat seit 2013 mehr als 350 000 Menschen, rund 20 Prozent der kroatischen Arbeitskräfte, darunter viele Ärzt*innen, ins Ausland getrieben.“
Viele Menschen verbinden mit Tito, der 1980 verstarb, positive Erinnerungen. Sein Jugoslawien versprach gewissen Wohlstand, soziale Sicherheit, ethnische Toleranz und internationales Ansehen. Es war zwar nicht demokratisch, aber deutlich weniger repressiv als die Ostblockländer. Daher ist Tito nunmehr Gegenstand einer alternativen Erinnerungskultur. Nicht wenige feiern am 25. Mai seinen offiziellen Geburtstag oder pilgern zu seiner Belgrader Grabstätte. Auch für viele Jüngere ist Tito der Held ihres Lebens und das personifizierte Positive. Darin spiegeln sich Verunsicherungen und Enttäuschungen, die die neue Zeit mit sich brachte. Denn viele Versprechen blieben nach dem Systemwechsel unerfüllt. Das Wohlstandsniveau Kroatiens liegt immer noch deutlich unter dem EU-Durchschnitt, der Brain-Drain hat seit 2013 mehr als 350 000 Menschen, rund 20 Prozent der kroatischen Arbeitskräfte, darunter viele Ärzt*innen, ins Ausland getrieben. So bleibt die Vergangenheit eine Projektionsfläche einer unsicheren Gegenwart.
Marie-Janine Calic
ist Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie war als Politische Beraterin des Sonderkoordinators des Stabilitätspakts für Südosteuropa in Brüssel sowie in der UNPROFOR-Zentrale in Zagreb und am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag tätig. Ihre Publikationen umfassen unter anderem die Monografien Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region (C.H. Beck, München 2016), Tito. Der ewige Partisan (C.H. Beck, München 2020) und Geschichte Jugoslawiens (C.H. Beck, München 2022). Sie ist häufige Gesprächspartnerin zu aktuellen Balkanthemen in den Medien.