Fritsch am Zentralfriedhof
Der Zentralfriedhof stellt – neben dem Heldenplatz – einen weiteren identitätsstiftenden Ort für Wien dar. Diesem widmet sich Herbert Fritsch in seiner nächsten Inszenierung am Burgtheater, die am 19. April 2024 als Abschlusspremiere dieser Direktion auf die Bühne kommt. Die Dramaturgin Sabrina Zwach gibt im folgenden Text Einblick in diese außergewöhnliche Stückentwicklung und darüber hinaus in Fritschs Theaterverständnis. So zeichnet sich auf vielversprechend-komische Weise ab, dass sich Fritschs theatraler Aberglaube und Wiens so besonderer Umgang mit Tod und Sterben sehr nahe kommen.
„Der Tod muß abgeschafft werden. Diese verdammte Schweinerei muß aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.“ Bazon Brock
Um mit dem Anekdotischen zu beginnen: Herbert Fritsch wird stets für einen Österreicher gehalten – ist er aber nicht! Bei den Wiener Festwochen zeigten wir 2015 OHNE TITEL NR. 1 im Burgtheater. Herbert Fritsch war so freudig erregt und voller unbändiger Energie, dass er ins AKH eingeliefert werden musste. Als ich ihn dort wenige Minuten nach seiner Aufnahme und Untersuchung traf, sprach er mit Grabesstimme über sein baldiges Ableben und den Trost, den er hätte, wenigstens in Wien sterben zu dürfen. Als ich ihm sagte, dass die Vorstellung sehr gut angekommen sei und in einer Stunde das Publikumsgespräch beginnen würde, zog er sich an und sagte: „Na dann, hopp, wir müssen!“ Da habe ich verstanden, warum er gerne für einen Österreicher gehalten wird: Die Österreicher*innen haben ein besonderes Verhältnis zum Tod und zum Sterben und das hätte Herbert Fritsch auch gerne!
Herbert Fritsch, 1951 in Augsburg geboren, wächst zunächst bei seinen sehr gläubigen Großeltern in der Oberpfalz, später bei seinem Vater in Hamburg auf. Die Mutter ist mit einem amerikanischen GI in die USA ausgewandert. In Hamburg besucht er die katholische Bonifazius-Schule. Der katholische Glaube hat ihn stark geprägt, die Gewänder, das Ritual, der Weihrauch, das Monumentale der Orgel. Immer wieder kommt Fritsch in seinen Inszenierungen zurück zu den Bildern und Themen, die ihn in der Kindheit und Jugend fasziniert und geprägt haben. Ritual, Tod, Schuld, Sühne, das Bild des Abendmahls oder der Pietà tauchen immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen auf.
Herbert Fritsch ist im ersten Beruf Schauspieler, ein physischer Schauspieler, ein Extremschauspieler. Der Körper ist für Fritsch als Regisseur und Bühnenbildner ebenfalls zentral. Will ich mit Fritsch etwas besprechen, so verabredet er sich zum Spazierengehen. Er ist ein Geher. Jeder Schritt ein Gedanke. Herbert Fritsch bereitet sich auf seine Arbeit vor, indem er seinen Körper in Bewegung setzt. Beginnen die Proben, setzt er die Körper der Schauspieler*innen in Bewegung. Schnell erhitzen sich alle bei Fritsch auf der Bühne, verrenken und verdrehen sich. Dabei geht es um etwas. Er inszeniert nicht mit dem Textbuch in der Hand, sondern mit einem schweißnassen Hemd am Leib, denn auch auf der Probe bleibt Herbert Fritsch in Bewegung. Den Inszenierungen sieht man die Körperlichkeit des Regisseurs an. Während man sich im Theater gemeinhin darauf geeinigt hat, sich auf die Psychologie der Figuren zu konzentrieren, konzentriert Fritsch sich auf die Körper, auf alle Komplexe, unterbewusste und bewusste Begierden, auf alle Ängste, Verkrampfungen und Ekstasen oder eben auf die Energie der Dinge, also den Körper. Fritschs Bühnenräume werden durch die Schauspielerkörper sichtbar gemacht und vereinnahmt. Über große Distanzen oder supernah begegnen sich Figuren. Räume werden aufgemacht und verteidigt – ähnlich wie in Feldsportarten, etwa beim Fußball. Energie – Körper – Raum! Und dann kommt eine Komponente hinzu, die dem Ganzen die Komik gibt: Der Fehler. Der Tod ist ein Fehler, dem sich Fritsch nun in ZENTRALFRIEDHOF vollumfänglich widmen wird. Wie man sterben richtig spielt, interessiert Fritsch, oder warum es Geisterbahnen gibt.
„Der Tod ist ein Fehler“
Der Tod ist ein großes Thema, die Furcht davor auch. Herbert Fritsch ist ein Bühnenmensch durch und durch und so ist neben dem Glauben auch der theaterspezifische Aberglaube bei ihm vorhanden. Herbert Fritsch beschwört bei fast jeder Inszenierung den Theatergott und gibt oftmals der Metaphysik der vermeintlich realen Probenanalyse den Vorzug. Zum ersten Mal konnte ich den tief verankerten Aberglauben von Herbert Fritsch bei der Arbeit an Macbeth erleben. Wie auch viele Schauspieler*innen nannte Fritsch den Titel des Stückes nie, er sprach immer von „The Scottish Play“. Und tatsächlich soll ein Fluch auf dem Stück liegen. Die Aufführungsgeschichte liest sich wirklich wie ein Thriller. Während der Uraufführung starb der Junge, der Lady Macbeth spielte, hinter der Bühne und Shakespeare musste die Rolle selbst übernehmen. In Amsterdam wurde der präparierte Theaterdolch mit einem echten verwechselt und bescherte dem Publikum eine schockierend realistische Sterbeszene. Diana Wynyard schlafwandelte als Lady Macbeth über die Bühnenkante und fiel fast fünf Meter in die Tiefe. Am Old Vic in London wurde Macbeth-Darsteller Laurence Olivier beinahe von einem herabfallenden Gewicht erschlagen und die Intendantin Lilian Baylis verschied einen Tag vor der Premiere. Noch schlimmer erging es der Inszenierung von John Gielgud, bei der drei Schauspieler ums Leben kamen und der Kostümbildner nach der Premiere Selbstmord beging. Nur wenig später erlitt Schauspieler Harold Norman in Manchester eine tödliche Stichwunde auf der Bühne. Bei einer Macbeth-Inszenierung von Stanislawski fand man den Schauspieler der Titelrolle tot in der Garderobe. Bei so viel Tod kann kein Zufall im Spiel sein und daher ist Aberglaube mehr als angebracht. So auch bei Fritsch.
Die abergläubische Angst der Theatermenschen ist nicht nur mit dem Tod verbunden, sondern auch mit dem Scheitern, das für manche eine Todeserfahrung bedeutet. Das Scheitern kann immer drohen. Das Scheitern ist nicht kalkulierbar.
Er hält sich akribisch an alle tief verankerten abergläubischen Regeln und davon gibt es nicht gerade wenige: Eine der verbreitetsten Regeln ist es, dass man im Theater nicht pfeifen darf. Dieser Aberglaube kommt aus der Zeit, als es noch Gasleuchter im Theater gab – der pfeifende Ton verwies darauf, dass Sauerstoffmangel herrschte. Außerdem darf man bei Fritsch und andernorts nicht auf der Bühne essen, nicht mit Mantel und Hut auf die Bühne kommen, nicht an Sonntagen proben, das letzte Wort der Inszenierung nicht vor dem Tag der Premiere aussprechen, nicht mit einem Danke auf ein Toi, Toi, Toi antworten. Und am allerschlimmsten ist es, einen Hut auf ein Bett zu legen. Das bedeutet, dass der Besitzer bis zum Ende des Tages sterben wird.
Da sind wir beim Thema: Theater, Tod und Aberglaube! Die abergläubische Angst der Theatermenschen ist nicht nur mit dem Tod verbunden, sondern auch mit dem Scheitern, das für manche eine Todeserfahrung bedeutet. Das Scheitern kann immer drohen. Das Scheitern ist nicht kalkulierbar. Auch wenn der Aberglaube im Theater oft nur noch manierierte Folklore ist, stellt er bei Fritsch einen vehement geführten Kampf gegen den Einbruch der Alltäglichkeit und des Profanen dar. Der Tod ist profan und alltäglich, weil er uns alle betrifft, keinen auslässt, keinen verschont.
So ist für Fritsch auch der 1874 eröffnete Wiener Zentralfriedhof viel mehr als eine letzte Ruhestätte. Rund zwei Quadratkilometer groß, handelt es sich um den zweitgrößten Friedhof Europas. Eine Parallelwelt tut sich also auf. Dabei geht es nicht nur um die vielen prominenten Künstler*innen, die hier begraben sind, sondern um die Vorstellung des Eigenlebens der Toten an diesem Ort. Männer und Frauen, Alte und Kinder, Menschen jedweder Kultur, Bildung oder sozialen Herkunft liegen gemeinsam beieinander.
Herbert Fritsch nähert sich dieser Gemeinschaft der Toten vorsichtig, voller Zärtlichkeit und Aberglauben. Helmut Qualtinger bemerkte einst: „In Wien musst’ erst sterben, damit sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst lang.“ Herbert Fritsch will nicht anekdotisch von den Toten erzählen, sondern – wer hätte es gedacht – komisch. Er wird die Komik suchen, die wir entwickeln, um unsere Furcht vor dem Tod zu verbergen. Wer Beerdigungen und Trauerfeiern besucht hat, weiß, was auch diese Zusammenkünfte neben der Tragik an komischem Potential bereithalten. Fritsch fragt sich, wie die Toten kommunizieren und wie die „scheene Leich“ – die pompöse Beerdigung – sich präsentiert. Am Würstelstand eh scho wuascht sah man ihn im letzten Sommer stehen, wo er wild mit dem Würstchen gestikulierend von den Toten sprach, als wolle er für ihre Rechte kämpfen und einen Tag der Toten am Burgtheater inszenieren. Dieser würde keine Trauerveranstaltung, sondern ein farbenprächtiges Fest zu Ehren der Toten sein, sagte er würstchenessend und auf Kaiser Maximilian von Mexiko referierend. Die Seelen aller Verstorbenen könnten durch ein solches Fest für diesen Moment zu ihren Familien zurückkehren, rief Fritsch begeistert aus, als habe er die Lösung gefunden, den Tod doch irgendwie abzuschaffen. Und während sich in mir die Bilder vom Würstelstand, den Toten und ihren Körpern, garniert mit der Melodie von Ambros’ „Zentralfriedhof“ überlagerten und mir ganz schwindlig wurde, trat Herbert Fritsch den nächsten Spaziergang durch den riesigen Friedhof an und verabschiedete sich mit den Worten: „Seines Todes ist man gewiss: warum wollte man nicht heiter sein?“, und schob nach: „...nicht von mir, sondern von Nietzsche. Aber der liegt nicht hier!“
Sabrina Zwach
studierte Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis. Sie kuratierte für die „Europäische Kulturhauptstadt Weimar 1999“, arbeitete als leitende Dramaturgin des Zürcher Theater Spektakel, war für zwei Jahre Dramaturgin der „Internationalen Show von Kurt Krömer“ (rbb) und zudem in der künstlerischen Leitung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz tätig. Zwach arbeitete als freie Dramaturgin, Autorin und Produzentin für Regisseur*innen wie Herbert Fritsch, Angela Richter und Ersan Mondtag, Antú Romero Nunes, Robert Borgmann, Anne Lenk und Mateja Koležnik. Ab der Spielzeit 2017/2018 arbeitete sie als Dramaturgin am Berliner Ensemble, bis 2021 am Burgtheater. Seit zwei Jahren schreibt sie als Stipendiatin den fiktionalen Briefwechsel „Briefe über den Anfang vom Ende“ über Tod und Trauer.