DER IRISCHE THEATER-TARANTINO
Grotesk – gewalttätig – genial: Mit diesen Attributen wird das Werk des Autors Martin McDonagh oftmals beschrieben. Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik inszeniert im Akademietheater DER EINSAME WESTEN u. a. mit Michael Maertens und Roland Koch – ein Stück über zwei Brüder, die sich nach der Beerdigung ihres erschossenen Vaters gnadenlos um Chips, Schnaps und Heiligenstatuen streiten. Aus Anlass der Premiere am 22. März 2024 gehen wir der Frage nach, wer eigentlich dieser britisch-irische Theaterautor ist, den man vor allem als gefeierten Filmemacher kennt.
1970 als Kind irischer Eltern in London geboren, versteht sich Martin McDonagh Zeit seines Lebens als Grenzgänger zwischen diesen beiden Kulturen. Eine einschneidende und nachhaltig prägende Zeit ist für McDonagh der Anfang der 1990er-Jahre, als seine Eltern nach Irland zurückkehren und Martin und sein um drei Jahre älterer Bruder, John Michael, alleine in ihrem Londoner Haus in Camberwell zurückbleiben. Die beiden Brüder verbringen einen Großteil ihrer Zeit damit, Filme von Martin Scorsese, Quentin Tarantino und anderen amerikanischen Filmemachern auf Videokassetten zu schauen. Andererseits zappen sie sich auch wahllos durch das Fernsehprogramm, das von BBC-Produktionen etwa von Pinters Geburtstagsfeier bis hin zu Seifenopern Diverses im Angebot hatte. Diese frühen Einflüsse von amerikanischer Popkultur – neben unterschiedlichen Formen der britischen und irischen – fließen von Anfang an in McDonaghs Werk ein, er selbst wird von der Kritik auch nicht selten als „Tarantino der irischen Theaterwelt“ bezeichnet.
McDonaghs frühe Theaterwerke werden in zwei Zyklen eingeteilt, die allesamt in und um County Galway spielen: Die Leenane-Trilogie und die Aran-Trilogie. Diese wildromantischen Gegenden im Westen Irlands sind stark dem Image traditioneller und „ursprünglicher“ irischer Kultur verhaftet – Connemara (wo alle drei Stücke der Leenane-Trilogie spielen) ist eine der wenigen Gegenden Irlands, in der Irisch die vorherrschende Sprache ist. Die drei Theaterstücke des früheren Zyklus („Die Beauty-Queen von Leenane“, „Ein Schädel in Connemara“, „Der einsame Westen“) beleuchten jeweils eine wichtige Institution des irischen Lebens kritisch: die Familie, das Gesetz und die Kirche. Zentrale Themen, die in der Aran-Trilogie behandelt werden („Der Krüppel von Inishmaan“, „Der Leutnant von Inishmore“, „Die Todesfeen von Inisheer“), sind einerseits das nach Außen hin verkörperte, verzerrte Bild eines rückständigen, prämodernen Irlands, das in der fiktionalen Dokumentation „Man of Aran“ (1934) vermittelt wird, andererseits eine satirische Auseinandersetzung mit dem Nordirlandkonflikt und der INLA (einer Splittergruppe der Irish-Republikanischen Armee). Das dritte Stück dieser Trilogie fungierte als Basis für das Drehbuch des erst kürzlich erschienenen, Oscar-nominierten Films „The Banshees of Inisherin“ (Die Todesfeen von Inisherin).
27 Jahre, 4 Stücke
Die Entstehungsgeschichte dieser frühen Werke ist besonders im Hinblick auf McDonaghs beeindruckende Produktivität bemerkenswert: Als sein Bruder John ein Drehbuchstipendium in den USA erhält, bleibt Martin McDonagh alleine in London und verbringt seine gesamte Zeit damit, vormittags an seinem ersten Theaterstück, „The Beauty Queen of Leenane“ (Die Beauty-Queen von Leenane), zu schreiben und am Nachmittag Seifenopern im Fernsehen anzusehen, ohne mit jemand anderem zu sprechen oder auch nur das Haus zu verlassen. Nach dieser intensiven Arbeitsphase soll McDonagh, in einem Nachtclub stehend, zu sich selbst gesagt haben: „Ich mag zwar keine Freundin haben, aber ich habe Die Beauty-Queen.“
Das Publikum kann gar nicht anders, als sich mit den aggressiven Handlungen und den darüber eröffneten Abgründen der Menschheit befassen.
Tatsächlich gelang McDonagh der Durchbruch in der Theaterwelt bereits mit 26 Jahren mit ebendiesem Stück, das im Jahr 1996 zunächst von der irischen Theaterkompanie „Druid in Galway“ inszeniert wurde und auf großen Beifall stieß und im gleichen Monat ans Londoner West End transferiert wurde. Zwei Jahre später wurde das Stück zunächst off-Broadway und schließlich am Broadway gespielt und mit vier Tonys ausgezeichnet. McDonaghs Stücke waren eine Sensation und schlugen in der britischen und internationalen Theaterszene der 1990er-Jahre ein. Im Jahr 1997 war er, mit nur 27 Jahren, der einzige Dramatiker neben Shakespeare, von dem vier Stücke gleichzeitig in einer Saison auf den Londoner Bühnen liefen. Seine Texte wurden mit der Tradition des „In-Yer-Face“-Theaters in Verbindung gebracht, die in Großbritannien dieser Zeit populär war und zu deren Hauptvertreter*innen etwa Sarah Kane, Mark Ravenhill und Jez Butterworth gezählt werden. In diesem Theater wird mit schockierenden, konfrontativen Darstellungsweisen von Gewalt gearbeitet, um das Publikum zu berühren und zum Nachdenken anzuregen. Im Vordergrund stehen dabei bewusst Tabubrüche und Grenzüberschreitungen: Das Publikum kann gar nicht anders, als sich mit den aggressiven Handlungen und den darüber eröffneten Abgründen der Menschheit befassen. Im dritten Stück der Leenane-Trilogie, „Der einsame Westen“, wird dieser Zugang in den Auseinandersetzungen zwischen den streitlustigen Brüdern Valene und Coleman sichtbar, deren gegenseitige Ressentiments im Laufe des Stücks zunehmend eskalieren, bis sie einander mit Küchenmesser und geladener Pistole gegenüberstehen.
Gewalt und Buße
Seinem Ruf als „bad boy des britischen Theaters“ (Fiachra Gibbons) wird McDonagh auch abseits der Bühne gerecht: Immer wieder legte er sich mit der britischen Theaterwelt an, etwa als er Anfang der 2000er-Jahre den damaligen Intendanten des National Theatre, Trevor Nunn, und andere britische Theatermacher*innen öffentlich kritisierte, weil sie sein Stück „Der Leutnant von Inishmore“, eine Satire auf irisch-republikanische Terroristen, nicht in das Programm aufnehmen wollten, weil sie befürchteten, dass das Stück zu politischen Unruhen führen oder dem gerade erst mühsam errungenen Frieden zwischen Irland und Nordirland abträglich sein könnte. McDonaghs Reaktion auf diese aus seiner Sicht mangelnde Risikobereitschaft war, durch die Presse zu verkünden, dass er keine neuen Stücke mehr schreiben würde, solange „Der Leutnant von Inishmore“ nicht inszeniert würde. Schließlich wurde das Stück im Jahr 2001 von der Royal Shakespeare Company in Stratford-upon-Avon aufgeführt und feierte einen Erfolg auf ganzer Linie.
Im Jahr 1997 war McDonagh mit nur 27 Jahren der einzige Dramatiker neben Shakespeare, von dem vier Stücke gleichzeitig in einer Saison auf den Londoner Bühnen liefen. Seine Texte wurden mit der Tradition des „In-Yer-Face“-Theaters in Verbindung gebracht, die in Großbritannien dieser Zeit populär war und zu deren Hauptvertreter*innen etwa Sarah Kane, Mark Ravenhill und Jez Butterworth gezählt werden.
McDonaghs Aufgreifen dieses zentralen britisch-irischen Konflikts im „Leutnant von Inishmore“ ist jedoch nur eine Facette seiner Auseinandersetzung mit irischen Themen und Kontexten. Viele seiner Stücke sind in einem fast rückständig wirkenden, oft in der Vergangenheit verhafteten Irland angesiedelt, aus dem die Charaktere nicht oder nur selten auszubrechen im Stande sind – wie etwa die Brüder Connor im EINSAMEN WESTEN, die weder mit- noch ohneeinander zu können scheinen und trotz ihrer grausamen Taten am Ende auf ein Bier ins Pub gehen. DER EINSAME WESTEN ist charakterisiert durch sprachliche und inhaltliche Wiederholungen, dem immergleichen Setting im Haus der Connors und einem Teufelskreis von Gewalt, gefolgt von kurzzeitiger Buße und Vergebung. Selbst in Valenes Nachkaufen von Heiligenfiguren, nachdem Coleman sie zerstört hat, kann man die verzweifelte Hoffnung sehen, dass doch noch alles anders wird – eine Erwartung, die sich jedoch nicht erfüllt. Valenes Frage an Coleman, „Muss ich eigentlich alles zehn Millionen Mal wiederholen?”, kann fast als Metakommentar auf die bedrückende Wiederholung und Stagnation, die in McDonaghs Stücken vorzuherrschen scheint, gelten und erinnert an den beklemmend-absurden Zwang zur Wiederholung im absurden Theater, etwa in Samuel Becketts „Endspiel“ oder Tom Stoppards „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“. Am Höhepunkt des Theaterstücks erzählen die Brüder einander die schlimmsten Taten, die sie begangen haben, in einer strikten Abfolge von Beichte, Ausdruck der Reue und Vergebung. Dass diese klar katholisch besetzten Rituale nicht den gewünschten Effekt haben und statt zu Versöhnung zu einer weiteren Eskalation der Gewalt führen, steht sinnbildlich für das Versagen der katholischen Kirche, die in Irland – aber auch darüber hinaus – seit Mitte der 90er-Jahre von einer Vielzahl an Skandalen geplagt war. Pater Welshs gefühltes Scheitern in diesem Stück, das schließlich mit seinem Selbstmord endet, verdeutlicht zusätzlich diesen symbolischen Zusammenhang.
Genialer Rebell
Während McDonagh einerseits als genialer Rebell, der die britisch-irische Theaterwelt aufgerüttelt hat, gesehen wird, kritisieren vor allem irische Rezensionen seine hinterwäldlerische Darstellung des irischen „wilden Westens“ in Connemara und die oftmals stark überzeichneten Charaktere. Dieser Umstand wird insofern als problematisch angesehen, als McDonagh als in London lebender und dort sozialisierter Dramatiker aus einer gewissen Außenperspektive über Irland schreibt. Gleichzeitig widerspricht gerade die extreme Gewalt und Grausamkeit sowie die starke Ironie in seinen Theaterstücken einem romantisch verklärten oder sentimentalen Irlandbild, das oftmals in Theaterstücken oder anderen Kulturprodukten vorherrscht und gemeinhin als „stage Irish“ (eine aufgesetzte, überzeichnete Form von Bühnen-Irischkeit) bezeichnet wird. Tatsächlich sind viele seiner Themen zeitlos und universell: die Familie, in der man bei Doderer metaphorisch, bei McDonagh durchaus auch wörtlich „umkommt“; moralische und existenzielle Reflexionen über den Sinn des Lebens und den Tod; und natürlich die ewige Frage, ob Taytos- oder McCoys-Chips besser sind.
Tamara Radak
ist Postdoc am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien. Ein besonderer Fokus ihrer Arbeit ist die Beschäftigung mit irischer Literatur und Kultur. Sie hat zu digitalen Formen des zeitgenössischen irischen Theaters und den Schriftstellern James Joyce und Flann O’Brien in Fachzeitschriften publiziert. Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit feministischem Medienaktivismus in Irland und Großbritannien von den 1970er-Jahren bis heute.