Demokratie hat Zukunft

Interview
Lesedauer 17 Minuten

Ein Gespräch mit Oliver Rathkolb über Thomas Bernhards HELDENPLATZ und eine europaweite Demokratie-Studie.

© Irina Gavrich
Das Gespräch führten Sebastian Huber und Rita Czapka.

Das Burgtheater und das Wiener Institut für Kultur- und Zeitgeschichte (VICCA) laden zu einer gemeinsamen Veranstaltung aus Anlass einer von VICCA, der Alfred Landecker Stiftung in Berlin, dem Fritz Bauer Institut der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien in Auftrag gegebenen Umfrage in sieben europäischen Ländern zu Autoritarismus, Geschichtsbildern und demokratischen Dispositionen. Diese repräsentative Befragung hat 2022 nach 2019 zum zweiten Mal stattgefunden und wir präsentieren in einer Matinee sowohl die Ergebnisse dieser Untersuchung als auch literarische Texte, um die wir Autor*innen aus den Ländern der Studie gebeten haben. Die Veranstaltung findet in einem Jahr statt, in dem es auf der halben Welt zu wichtigen und richtungsweisenden Wahlen kommt, und sie findet am 17. März statt, also vier Tage nach dem Jahrestag des sogenannten „Anschlusses“ Österreichs an Nazideutschland 1938. Einen Monat zuvor, am 17. Februar, hat Frank Castorfs Inszenierung von Thomas Bernhards letztem Stück HELDENPLATZ Premiere, in dem der 13. März 1938 ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Prof. Oliver Rathkolb hat die Veranstaltung angeregt. Wir haben uns mit ihm zu einem Gespräch über Erinnerung und ihre Bedeutung für die Zukunft der Demokratie getroffen.

BURGTHEATER In Thomas Bernhards Stück HELDENPLATZ kommt bekanntlich eine Figur vor, die 1988 weiterhin das Geschrei hört, das diesen Platz fünfzig Jahre zuvor bei Adolf Hitlers Auftritt füllte. Wenn wir das für einen Moment nicht psychologisch als Trauma einer einzelnen Person verstehen, sondern als poetisches Bild, dann handelt es sich beim 13. März 1938 offensichtlich um ein Ereignis, das unvergangen ist, also nicht historisch wurde. Würden Sie als Historiker sagen, dass es tatsächlich Ereignisse gibt, die nicht vergehen, nicht Geschichte werden?
OLIVER RATHKOLB Das habe ich mich im Zusammenhang mit dem Heldenplatz noch nie gefragt, aber ja, davon bin ich überzeugt, und auch unsere Umfragen zeigen, dass es Ereignisse gibt, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und nach wie vor wirkmächtig sind. Ein gutes Beispiel für ein solches Fortwirken waren auch die Reaktionen vor und bei der Uraufführung des Stücks, deren Heftigkeit man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Die Mistfuhren, die vor dem Burgtheater abgeladen wurden, der Jungfunktionär H.-C. Strache mit geballter Faust brüllend auf der Galerie, die teilweise martialischen Debatten, die im Vorfeld geführt wurden – da konnte man sehen: Das ist noch nicht verarbeitet, abgeschlossen und in diesem Sinne Vergangenheit geworden.
Für mich als Gegenwartshistoriker wie auch als politisch denkender Mensch ist die Auseinandersetzung mit solchen historischen Traumata und ihrem Fortwirken wichtig. Wir haben in empirischen Studien schon seit 2007 nachgewiesen, dass Menschen, die sich selbstbewusst, offen und ohne Wenn und Aber auch mit den dunklen Kapiteln der eigenen nationalen Geschichte beschäftigen, ein besseres Demokratiebewusstsein haben. Die Reflexion von und die Debatte über Geschichte, bei der auch das Theater eine zentrale Rolle spielt, ist politische Bildung, ist Arbeit an der Demokratie der Gegenwart und Zukunft.
Nun hat sich der Umgang mit der Geschichte der NS-Zeit in den Jahren seit 1988 sicher in vielerlei Hinsicht verändert, in einer aber gewiss, nämlich, dass die Menschen, die noch über persönliche Erinnerungen verfügen, immer weniger werden. Was hat das für einen Einfluss auf das Bewusstsein von Geschichte?
Das ist einerseits richtig, andererseits erleben wir – und haben als Geschichtswissenschaft auch lange unterschätzt –, wie stark das Fortleben von Erinnerungen zum Beispiel in Familien über Generationen hinweg sein kann. Es ist erstaunlich zu sehen, dass sich in vielen Familien die Enkel-Generation intensiver und gründlicher mit den Haltungen und dem Verhalten ihrer Vorfahren während der NS-Zeit auseinandersetzt, als das in der zweiten Generation der Fall war. Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen, weil mich immer wieder Anfragen von Enkel*innen erreichen, die wissen möchten, wie sie an bestimmte Quellen gelangen können. Wenn wir als Geschichtswissenschaft ein größeres Augenmerk darauf legen, kann man auf diese Weise – also durch Verbindung von persönlicher Nähe und größerem historischen Abstand – vielleicht sogar den Verlust der Zeitzeug*innen perspektivisch ersetzen. Gerade in der Zeit der Turboglobalisierung, die wir gerade erleben, erscheint mir der Blick in die eigene nationale, wie in die transnationale europäische Geschichte immens wichtig.
Nun leben wir zunehmend in einer diversen Gesellschaft, in der Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichtsbildern zusammenleben. Was hat das für Auswirkungen auf die Wahrnehmung historischer Erzählungen?
Ich verstehe das vor allem als Gewinn. Wenn sich zunehmend Menschen mit Geschichte auseinandersetzen, die nicht so stark von den traditionellen Erzählungen geprägt sind, dann eröffnen solche neuen Blicke und Fragen oft auch andere Wege der Betrachtung. Man sieht beispielsweise im Geschichtsunterricht, dass man nationale Geschichte anders, multiperspektivischer vermitteln muss, aber das ist überhaupt kein Nachteil. Letztlich geht es in der Zeitgeschichte immer um die große Frage von Freiheit, Offenheit, Menschenrechten, Demokratie versus Diktatur. Darüber kann man sich mit Menschen der unterschiedlichsten Traditionen und Herkünfte auseinandersetzen und verständigen.
Eine andere Figur in HELDENPLATZ wiederholt immer wieder die Aussage, dass es heute, also 1988, „schlimmer“ sei als 1938. Das hat natürlich, wie Sie beschrieben haben, viel Aufregung verursacht – aber interessanterweise nur ein Aspekt der Aussage. Es wurde vehement bestritten, dass 1988 so „schlimm“ sei wie 1938, aber ich habe nirgends das heute häufig gebrauchte Argument gefunden, dass man die Verbrechen der NS-Zeit wegen ihrer historischen Einzigartigkeit grundsätzlich nicht vergleichen dürfe – eine Forderung, die ja sogar einige Jahre älter ist als Thomas Bernhards Stück.
Ich verstehe das bei Bernhard anders. Ich glaube, sein Argument ist: 1938 war zwar schrecklich, weil Österreich, damals eine Diktatur, aber ein unabhängiger Staat, zerbricht und sich die antisemitischen Horden über Wien und die Bundesländer ergießen, aber man konnte damals noch nicht mit Sicherheit wissen, wo das hingeht. 1988 hingegen hätte man das vollständige Wissen zur Verfügung, aber es wird geleugnet, Au- schwitz zu einem deutschen Thema erklärt. Und mit dem Satz, den Sie zitieren, holt Bernhard das Thema in die Mitte der Stadt und in die Mitte der Gesellschaft zurück. Das war ein massiver Tabubruch.
Das ist ein sehr interessanter Aspekt, der auch für die Inszenierung von Frank Castorf eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Vergegenwärtigung einer geschichtlichen Offenheit, die uns im Rückblick auf 1938 kaum mehr zugänglich ist, weil wir die Folgen kennen. Wir lesen daher in der Produktion parallel zu Bernhards Stück etwa auch Texte des amerikanischen Romanciers und begeisterten Deutschlandreisenden Thomas Wolfe, der in seinem Tagebuch Listen über Vor- und Nachteile des Faschismus führt, oder Tagebücher von John F. Kennedy, der in aller Offenheit überlegt, ob der Faschismus für Italien und Deutschland nicht vielleicht eine ganz brauchbare Regierungsform sein könnte.
1938 war auch das Jahr des Münchner Abkommens, mit dem vor allem Großbritannien und Frankreich hofften, durch die Zerschlagung der demokratischen Tschechoslowakei und der Angliederung der „Sudetengebiete“ Nazideutschland befrieden zu können. Ich will das nicht verteidigen, aber man sieht auch an diesem Beispiel, dass historische Momente auf die Zukunft hin offen sind. Das heißt natürlich auch, dass sie anschließend historisch bewertet werden müssen. Und Thomas Bernhard konnte nicht ertragen, dass das, was man 1988 wissen konnte, in der österreichischen Gesellschaft nicht wahr- und ernstgenommen wurde.

„Eine unserer großen Schwächen als Demokratie liegt in der Bildungspolitik.“

Historische Vergleiche und ihre Zulässigkeit spielen ja gerade in der gegenwärtigen politischen Debatte wieder eine große Rolle. Für den Geschichtswissenschaftler sind sie das tägliche Brot und eine wichtige Basis von Erkenntnissen. Wann aber werden solche Vergleiche ihrer Auffassung nach sinnlos oder unstatthaft?
Ich glaube, es ist immer wichtig, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedener historischer Ereignisse deutlich zu machen. Es besteht immer die Gefahr, dass als Ergebnis eines noch so gut gemeinten Vergleichs eine historisch eigentlich so gut wie immer falsche Gleichsetzung herauskommt. Wir erleben gerade wieder, wie schwer es unter den Bedingungen einer medialisierten Öffentlichkeit ist, hier zu differenzieren. Man muss auch jedes Verbrechen gegen die Menschenrechte im jeweiligen politischen Rahmen betrachten und bewerten. Die Versuche zum Beispiel, alles was mit massiven Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu tun hat, zum Holocaust zu erklären, führt uns überhaupt nicht weiter.
Wenn historische Vergleiche in der direkten politischen Anwendung also eher problematisch sind, was und auf welchen Wegen lässt sich vielleicht trotzdem aus Geschichte lernen?
Angesichts des Erstarkens rechtsextremer Parteien in Deutschland und hierzulande, helfen uns keine Nazi-Vergleiche. Wir müssen vielmehr versuchen, zu verstehen, dass viele Menschen sich unter den Bedingungen der Turboglobalisierung tatsächlich hilf- und ratlos fühlen, auch in dem Sinne, dass sie von „der Politik“ keine Verbesserung ihrer Lebensumstände mehr erwarten. Ein solcher Zustand politischer Apathie, den wir in unserer europaweiten Befragung an vielen Punkten beobachten, führt häufig zu Anfälligkeit für vereinfachende Antworten mit simplen Schuldzuweisungen und klaren Feindbildern. Die Frage ist, welche Angebote die Demokratie machen kann, die auch emotional attraktiv sind und Sicherheit in turbulenten Zeiten anbieten. Und auch ohne fertige Rezepte bei der Hand zu haben, kann man sagen, dass im Bereich der politischen Bildung und der demokratischen Teilhabe derzeit viele Chancen ungenutzt bleiben. Es gibt dazu verschiedene Studien, zuletzt von zwei Psychologinnen der Universität Princeton in einer chinesischen Textilfabrik, die erwiesen haben, dass bei 20 Minuten langen und professionell moderierten wöchentlichen Aussprachen innerhalb der Arbeitsgruppen über ihre Situation im Unternehmen das autoritäre Potential bereits nach kurzer Zeit, nach wenigen Monaten merklich abnimmt. Die Menschen werden selbstbewusster. In diese Richtung können wir neue Konzepte entwickeln, um der wachsenden Apathie in den Gesellschaften und den damit einhergehenden Wünschen nach „starken“ Führungspersonen, die einem angeblich alle Probleme aus dem Weg räumen, entgegenzuwirken.
Was können jenseits solcher betrieblicher Strukturen Mittel und Wege sein, um die Demokratie zu stärken? Sie zitieren in der Ankündigung Ihrer Studie Ralf Dahrendorf und seine Frage, ob wir vor einem neuen „autoritären Jahrhundert“ stehen.
Der Soziologe Ralf Dahrendorf, der zeit seines Lebens ein engagierter Liberaler war und als Abgeordneter des deutschen Bundestages, der Europäischen Kommission und des britischen Oberhauses keinen geringen Einfluss auf die europäische Politik hatte, hat gegen Ende seines Lebens in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts erkannt, dass das, was Europa nach 1945 zunehmend ausgezeichnet hat, im Schwinden begriffen ist. Europa nach 1945 war durch eine solidarische, relativ homogene Entwicklung gekennzeichnet, die auch dazu führte, dass das weiterhin vorhandene autoritäre Potential weitgehend eingehegt werden konnte. Dass zum Beispiel hohe NSDAP-Funktionäre, die durchaus Schuld auf sich geladen hatten, nach dem Weltkrieg wieder wichtige Posten bekleiden konnten, war in dieser Perspektive zwar problematisch, stellte aber keine große Gefahr dar. Das soziale Netz und der Wirtschaftsaufschwung hatten die Gefahren eines totalitären Revisionismus niedergerungen. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus, sagt der Liberale Dahrendorf, und ich ergänze, mit der Turboglobalisierung, ist dieser Nachkriegspakt, das Versprechen von Stabilität und sozialem Ausgleich, aufgekündigt worden. Und wir sehen derzeit, ganz so wie Dahrendorf es analysiert hat, dass soziale Fragen tatsächlich wieder eine größere Rolle spielen.
Aber wie kommt es, dass rechte Parteien europaweit aus ungelösten sozialen Fragen Gewinn schlagen, obwohl sie darauf ja in der Regel deutlich weniger schlüssige Antworten haben, beziehungsweise ihnen die Beantwortung auch einfach weniger am Herzen liegt, als das bei linken, progressiven Parteien der Fall sein sollte?
Das ist ein Phänomen, das uns bereits aus der Zwischenkriegszeit bekannt ist. Die NSDAP zum Beispiel ist mit einem sehr radikalen Programm angetreten, in dem die Zerschlagung des Großkapitals und weiträumige Umverteilungen versprochen wurden. Als sie an die Macht gekommen war, ist von all dem nicht mehr die Rede gewesen, das Privateigentum, die großen Konzerne blieben völlig unbehelligt, Juden und Jüdinnen hingegen wurden ausgeplündert und ihr Vermögen eingezogen – meist ohne gerechte Entschädigung. Das NS-Regime gründete ein paar politische Großbetriebe, wie die „Reichswerke Hermann Göring“ zur Stahlerzeugung und Rüstungsproduktion, aber das System des Privatkapitalismus hat in Deutschland weiter funktioniert.
Nun sind wir doch wieder beim Vergleichen angekommen: Wenn Sie sich die österreichischen Ergebnisse Ihrer europaweiten Befragung anschauen, gibt es da besonders augenfällige Parallelen zu anderen Phasen der österreichischen Geschichte?
Die Fragen waren für die gesamte Untersuchung in allen sieben Ländern aus Gründen der Vergleichbarkeit einheitlich formuliert. Die Zustimmung zu „Es sollte einen starken Führer geben, der ohne Parlament und Wahlen auskommt“ ist in Österreich und Deutschland niedriger als in manchen anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Frankreich und Italien. Das liegt jedoch wahrscheinlich auch an der Formulierung. Aber wenn man die Ergebnisse verschiedener Fragestellungen zusammenfasst, stellt man fest, dass es einen Kern von 20 bis 30 Prozent der Befragten hierzulande gibt, der wirklich starke Vorbehalte gegen das demokratische System erkennen lässt.
Ich glaube, eine unserer großen Schwächen als Demokratie liegt in der Bildungspolitik. So gut und wichtig die Investitionen in Universitäten und in die Forschung sind – wir müssten unser Augenmerk auch viel stärker auf die Basis, auf die Kindergärten und Grundschulen richten, als wir dies bisher tun. Hier brauchen wir eine gute Bezahlung der Mitarbeiter*innen und eine gezielte Förderung von Mehrsprachigkeit, um nur ganz wenige Beispiele zu nennen. Das würde eine größere Chancengleichheit schaffen, wäre daher demokratiepolitisch ungemein wichtig und natürlich gleichzeitig auch Arbeit am Fundament für exzellente Universitäten und Spitzenforschung. Da wird meiner Auffassung nach viel zu wenig investiert.
© Irina Gavrich
Wenn Sie die Ergebnisse der Befragungen europaweit betrachten, die sich natürlich in vielen Punkten unterscheiden, weil die gegenwärtigen Situationen wie auch die Geschichte und die Geschichtsbilder in den Ländern unterschiedlich sind, gibt es trotzdem eine große gemeinsame Tendenz, die Sie beschreiben könnten?
Positiv muss man eins hervorheben: Bei allen unterschiedlichen Einschätzungen zu den Herausforderungen und Problemen des politischen Systems auf der nationalen und der europäischen Ebene, bei aller messbaren Apathie, den autoritären Tendenzen und Neigungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die sich ablesen lassen – am Ende, wenn es Spitz auf Knopf steht, überwiegt die Zustimmung zur Demokratie deutlich und ist letztlich ungebrochen.
Aber ist denn tatsächlich immer ganz klar, welche Demokratie gemeint ist, die da Zustimmung erfährt? Ihr Kollege Arpád von Klimó hat in seinem Beitrag zur Auswertung der Ergebnisse in Ungarn genau diese Frage gestellt: Bedeutet die Zustimmung zur Demokratie hier Zustimmung zur „illiberalen Demokratie“, wie Viktor Orbán sie propagiert, oder lässt sich diese Zustimmung vielleicht sogar als oppositioneller Impuls verstehen?
Das ist tatsächlich zunehmend ein Problem, und bei Weitem nicht nur in Ungarn, dass Politiker*innen, die bloß autoritären Machterhalt im Sinn haben, die große Zustimmung zur Demokratie im Allgemeinen dazu nutzen, diese umzudefinieren und auszuhöhlen. Demokratie ist eine Frage der politischen Kultur und kann nur funktionieren – das können wir bei dem brillanten Rechtsgelehrten Hans Kelsen, dem wichtigsten Redakteur der österreichischen Verfassung, sehr schön nachlesen – wenn alle bereit sind, Kompromisse einzugehen, zu verhandeln, wenn man die Rechte und Positionen der Minderheit in die Entscheidungen einbezieht und nicht nur mit Mehrheiten 50 plus 1 drüberfährt. Eine Besinnung auf diese Wurzeln würde uns guttun.

„Thomas Bernhard konnte nicht ertragen, dass das, was man 1988 wissen konnte, in der österreichischen Gesellschaft nicht wahr- und ernstgenommen wurde.“

Gleichzeitig haben Sie auf die Gefährdungen hingewiesen, die die österreichische Verfassung bei all ihrer gepriesenen Schönheit auch enthält.
Das größte Problem unserer Verfassung besteht meines Erachtens in der Macht des Bundespräsidenten, die ihm in der Bundes-Verfassungsnovelle 1929 zugesprochen wurde. Seither hat der Präsident hinsichtlich der Regierungsbildung und der Entlassung von Regierungen fast Hindenburg-gleiche Rechte. Er kann souverän und autoritär Entscheidungen treffen, die er auch nicht weiter begründen muss, und so praktisch mit einem Federstreich eine veritable Staatskrise auslösen. Das ist ein Überrest aus der präautoritären Zeit, der sich in unserer Verfassung erhalten hat. Was mich gleichwohl sehr optimistisch stimmt, ist, dass wir in Österreich mittlerweile eine Jurist*innen-Generation haben, die sich wirklich als Vertreter*innen einer unabhängigen Justiz begreift. Da sind große Fortschritte gegenüber langen Phasen der Zweiten Republik zu verzeichnen. Dem gegenüber steht unsere größte demokratiepolitische Schwäche, nämlich die Bedrohung der Unabhängigkeit der österreichischen Medien, wie internationale Vergleiche seit Jahren aufzeigen.
Welche Rolle spielt, Ihrer Auffassung nach, die Kultur in dieser Situation? Wir haben uns sehr gefreut, dass Sie auf das Burgtheater zugekommen sind und eine gemeinsame Veranstaltung zur Präsentation der Ergebnisse Ihrer Studie vorgeschlagen haben. Sie haben das explizit mit dem Engagement unseres Hauses für Demokratie und gegen die beobachtbaren autoritären Tendenzen in diesem Land begründet. Daraus ist die Idee entstanden, Autor*innen aus Ländern der Befragung, also aus Frankreich, Italien, Deutschland, Polen, Ungarn, England, Österreich, und aus der Slowakei um literarische Texte zum Stand der Demokratie zu bitten. Annamária Lang, Tobias Moretti, Martin Schwab und Marie-Luise Stockinger werden diese Texte von Jean-Baptiste Del Amo, Sabine Gruber, Michal Hvorecký, Dorota Masłowska, Terézia Mora, Kathrin Röggla, Antonio Scurati, Gerhild Steinbuch und Tena Štivičić lesen. Was versprechen Sie sich von dieser Kombination von wissenschaftlicher Untersuchung und literarischen Texten?
Die Wissenschaft denkt in sehr komplexen Theorien, Methoden, Modellen. Aber das Gefühl, wie bestimmte politische Prozesse auf Menschen und ihre Lebensrealität einwirken, erfassen Autor*innen viel genauer. Wir beobachten ja auch, dass die Emotionalisierung von politischen Fragen rechtspopulistischen Gruppen häufig sehr viel besser gelingt als den Parteien der Mitte. Literatur und Kunst findet aber Wege, Menschen nicht nur auf der rein argumentativen, oftmals etwas abstrakten Ebene anzusprechen. Was hieße es für das Selbstverständnis der Einzelnen und für uns als Gesellschaft insgesamt, wenn Dahrendorf Recht bekäme und wir tatsächlich in ein neues autoritäres Zeitalter einträten? Davon und von den kleinen, fast unmerklichen Verschiebungen, die einem solchen Prozess vorausgehen können, während formal weiterhin die Verfassung in Kraft ist, Wahlen stattfinden etc., kann Literatur und können die Künste ganz anders erzählen, als das der Wissenschaft möglich ist.
Oliver Rathkolb
Oliver Rathkolb
© Harald Eisenberger

Oliver Rathkolb

geboren 1955 in Wien, Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte an der Universität Wien, Professor für Zeitgeschichte und Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte ebendort. 1985–2003 wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv, 2005–2008 Gründungsdirektor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit. Herausgeber der Fachzeitschrift zeitgeschichte sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats im Haus der Europäischen Geschichte des Europäischen Parlaments.

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