WIE LUFT ZUM ATMEN
* FOKUS UKRAINE *
Ein Gespräch zum Ukraine Krieg mit dem Historiker Philipp Ther.
Rita Capka: Herr Professor Ther, vor mir liegt Ihr Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent.” Eine Geschichte des neoliberalen Europa aus dem Jahr 2014. Sie haben damals die Situation richtig eingeschätzt und vieles von dem, was wir heute erleben, vorhergesehen.
Philipp Ther: Die Gefahr war schon damals gegeben, seit dem verdeckten russischen Einmarsch im Donbas 2014. Diesen Krieg hat Putin immer weitergeführt.
Sie sagten, dass die russische Regierung an einem post-imperialen Minderwertigkeitskomplex leide. Hängt das zusammen mit den Transformationsprozessen des Ostens, die 1989 begonnen haben?
Russland hat in den 1990er Jahren extrem schwere Zeiten durchlebt. Erst kam der Zerfall der Sowjetunion, der dort bald als Zerfall des eigenen Imperiums empfunden wurde – während die Ukraine sich vor allem als befreite Nation verstand und mental ganz anders in das neue Zeitalter aufgebrochen ist. Darauf folgte die schwere Wirtschaftskrise, die in Russland das Ausmaß der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren erreichte, mit einer stark sinkenden Lebenserwartung. Das war für große Teile der Bevölkerung eine Katastrophe. Das dritte Trauma war die Rubelkrise von 1998, als die ohnehin schmale Mittelklasse ein weiteres Mal verarmte. Auf diesen Traumata gründete Putin seine Herrschaft. Er war zunächst gegenüber dem Westen eine Zeit lang aufgeschlossen, stellte aber ab 2004 – schon damals mit Blick auf die Ukraine – auf einen anti-westlichen Kurs um. In der Orangenen Revolution hat er politisch interveniert und den Westen – das betrifft nicht nur die NATO, sondern auch die EU – als Konkurrenz verstanden. Dann kamen als weitere Etappen die Unterstützung der pro-russischen Regierung unter Präsident Wiktor Janukowytsch, die 2013/2014 gestürzt wurde. Seit 2014 hat Russland im Donbas den erwähnten Krieg gegen die Ukraine geführt, nur wollte man das im Westen und besonders in Österreich nicht wahrnehmen. Jetzt kam es zum zweiten Angriff auf die Ukraine nach 2014.
Die Ukraine war für Europa und leider auch für Österreich immer weit weg.
Viele ukrainische Schriftsteller* innen, mit denen wir in Kontakt sind, fühlen sich seit der Maidan-Revolution 2013/2014 vom westlichen Europa verraten und im Stich gelassen. Einer der prominentesten ukrainischen Autoren, Juri Andruchowytsch, schrieb schon im Jahr 2006, die Ukraine brauche die europäische Perspektive wie Luft zum Atmen. Hat man versäumt, die Ukraine in die EU aufzunehmen?
Die Ukraine war für Europa und leider auch für Österreich immer weit weg. Viele Menschen wissen gar nicht, dass es eine eigenständige ukrainische Sprache und Kultur gibt, zu der die erwähnten Schriftstellerinnen und Schriftsteller gehören: Theaterautoren, angefangen bei Nikolai Gogol, der aus der Ukraine stammte, bis in die jüngste Zeit zu Andruchowytsch. Es handelt sich um eine eigenständige Kultur, die man hier selten als solche wahrgenommen hat. Das geht darauf zurück, dass man im Grunde immer die Sowjetunion als einen einheitlichen Staat verstanden hat und in Österreich auch nie so recht begriff, dass man nicht nur von „Russen“ befreit worden war 1945, sondern auch von Ukrainern. Die Gleichsetzung von Sowjetisch und Russisch war schon immer problematisch, und die Ukraine ist dadurch immer wieder hinten heruntergefallen, trotz aller Lippenbekenntnisse über die zahlreichen historischen Verbindungen durch das Habsburgerreich, das bis 1918 über Galizien herrschte. Also müsste man sich das, was Andruchowytsch gesagt hat, in Österreich besonders zu Herzen nehmen. Dass man es versäumte, lässt sich vielleicht ein Stück weit ausgleichen, indem man die Ukrainer – vor allem die hier ankommenden Ukrainer – nach Kräften unterstützt. Es stünde einem Land, das sich als neutral versteht, gut an, denn Österreich muss keine Beiträge zur Nato leisten. Dann sollte man das umso mehr humanitärer, oder eben auch auf kultureller Ebene tun.
Es ist Zeit, ukrainische Autorinnen und Autoren zu lesen, und nicht nur mit aktuellen Werken über den Krieg
Stehen Sie momentan in Kontakt zu ukrainischen Kulturschaffenden?
Ich war seit 1996 fast jährlich in der Ukraine, von daher habe ich sehr enge Kontakte. Vor ein paar Tagen habe ich zuletzt mit Vasyl Cherepanyn, dem Leiter der Biennale in Kiew, gesprochen. Er flehte geradezu darum, die Ukraine nicht zu vergessen, sie auf allen Ebenen, politisch, aber auch militärisch zu unterstützen. Die Biennale bekam die Vernachlässigung der Ukraine schon länger zu spüren. Nach der Revolution von 2013/2014 flossen eine Zeit lang Sponsorengelder verschiedener westlicher Stiftungen. Ein paar Jahre später war das vorbei. Mit einem Minimalbudget hat Herr Cherepanyn eine großartige Kunst- und Kulturveranstaltung organisiert. Es gab Ausstellungen, Lesungen, Literaturveranstaltungen. Ich hatte die Ehre, mit meinem Buch von 2019 dort auftreten zu dürfen. All das ist jetzt Vergangenheit. Viele der Räume, die für die Biennale genutzt wurden, sind vermutlich stark beschädigt oder zerstört, oder sie dienen anderen Zwecken. Noch besorgter bin ich um Kollegen in Charkiw. Es gibt dort eine große, vor allem in den technischen, aber auch in den humanistischen Fächern gut aufgestellte Universität. Diese wurde jetzt samt dem Stadtzentrum bombardiert. Hoffentlich wird dieses Verbrechen eines Tages beim Völkergerichtshof in Den Haag entsprechend geahndet. Sie müssen wissen, dass Charkiw eine sehr schöne Stadt war: Ein weltweit einzigartiges Ensemble an modernistischen, zum Teil auch futuristischen Bauten, mit dem Bauhaus vergleichbar. Außerdem standen im Zentrum einige frühe Stalin-Bauten, schöner als die in Warschau oder Ost-Berlin. Die russische Armee hat eine Rakete direkt auf den Hauptplatz, den Platz der Freiheit in Charkiw gelenkt. Weil es ihr Ziel ist, den ukrainischen Freiheitswillen zu zerstören. Angesichts dieser Zerstörungswut fände ich es wichtig, dass man sich im Westen und konkret am Burgtheater der ukrainischen Kultur mehr als bisher öffnet. Es ist Zeit, ukrainische Autorinnen und Autoren zu lesen, und nicht nur mit aktuellen Werken über den Krieg. 2021 ist die Übersetzung des Buches von Stanislaw W. Assjejew über ein Straflager in Donezk erschienen. Er war als Russland-kritischer Journalist zwei Jahre lang dort inhaftiert und wurde gefoltert. Da kann man nachlesen, wie das Putin-Regime mit Oppositionellen umgeht. Bücher wie dieses sollten bei großen Verlagen mit einer großen Reichweite erscheinen. Es wäre auch schön, mehr ukrainische Theaterstücke aufzuführen. Ich selbst bin am meisten im Musiktheater bewandert und denke an die Oper „Moses von Myroslav Skoryk”, einem 2020 verstorbenen Komponisten. Die Musik ist im Unterschied zur gleichnamigen Oper von Schönberg tonal und klingt ein bisschen ähnlich wie dessen früheste Kompositionen. Sie wurde 2001 in Lemberg uraufgeführt, wo ich sie gesehen habe, und erzählt die biblische Saga vom Volk Israel, das von Moses in die Freiheit geführt wird. Skoryk ging es darum, das Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer darzustellen.
In den vergangenen Jahren haben wir uns im Kasino am Schwarzenbergplatz um den kulturellen Austausch u. a. mit der Ukraine bemüht – in unserer Reihe „Kakanien – Neue Heimaten”, aus der später die Reihe „Grenzgänger” wurde, hatten wir etliche Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Historiker*innen zu Gast. Sehen Sie angesichts der gegenwärtigen Lage – politisch wie kulturell – die Gefahr, dass Europa wie im Kalten Krieg in Einflusszonen unterteilt wird?
Die Transformation nach 1989 beruht darauf, dass alle Staaten, auch die post-sowjetischen, sich in ihren anerkannten Grenzen frei entwickeln können. Jetzt soll diese Ordnung durch das Recht des Stärkeren ersetzt werden. Das darf die EU nicht dulden. Putin hätte gern, dass man Europa in Einflusssphären unterteilt. Das entspräche seiner Vision von Geopolitik und er arbeitet seit seiner Brandrede gegen den Westen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 gezielt daran; im Grunde sogar schon seit der Orangenen Revolution 2004. Ich würde davon abraten, im Westen von einer neuen Teilungsgrenze zu sprechen. Wo sollte diese denn verlaufen? An der Ostgrenze Polens? Oder, falls Putin das anstreben sollte, in einer eines Tages geteilten Ukraine, wie Korea oder Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg? Diesem Gedanken sollten wir uns auch sprachlich nicht annähern, sondern der Ukraine alle Unterstützung leisten, die sie braucht und fordert.
Es ist notwendiger denn je, der Kultur der Ukraine unsere Aufmerksamkeit zu widmen und sie zu fördern, wo wir können.
Anscheinend hat das Regime Putins den ukrainischen Widerstand unterschätzt. Wie könnte, Ihrer Meinung nach, der Ausweg aus der Krise aussehen?
Putin ist nicht nur ein unkalkulierbares Risiko eingegangen, sondern er hat sich auch unrealistische Kriegsziele gesetzt. Hinter seiner sogenannten „Entnazifizierung“ der Ukraine verbirgt sich der Sturz der demokratischen Regierung und die Einsetzung eines Diktators wie Lukaschenko in Belarus. Das kann nicht gelingen, außerdem würde es voraussetzen, dass er das ganze Land besetzt und auf die Dauer beherrscht. Das ist allein aufgrund der Größenverhältnisse nicht möglich. Russland mit seinen 140 Millionen Einwohnern und seiner Armee kann ein Land mit 43 Millionen Einwohnern nicht auf die Dauer besetzt halten. Das würde auch nicht funktionieren, würde sich Putin auf die Ost- und die Südukraine und Kiew als Trophäe beschränken. Die westlichen Kriegsziele wurden jedoch auch nicht klar definiert. Welche Ukraine will man denn schützen? Die Ukraine ohne die jetzt militärisch verlorenen Gebiete? Die Ukraine ohne Krim und ohne die okkupierten Gebiete im Donbas? Oder will man die Ukraine als Gesamtes bewahren, in ihrer territorialen Integrität? In letzterem Fall müsste man von Russland besetzte Gebiete zurückerobern. Weil die Kriegsziele nicht klar definiert sind und wahrscheinlich auch schwer erreichbar, muss man einen langen und verlustreichen, zermürbenden Krieg befürchten.
VICTOR SCHLOTHAUER: Wir haben zuvor von den Versäumnissen der westeuropäischen Länder gesprochen, die ukrainische Kultur ausreichend wahrzunehmen. Würden Sie sagen, um über kulturellen Austausch nachzudenken, ist es nun zu spät?
Im Gegenteil. Ich sehe einen Imperativ, diesen Austausch zu fördern. Das beginnt bei der Unterstützung von Kunst- und Kulturschaffenden, die jetzt zur Flucht gezwungen sind – die Exilkultur wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. Zugleich werden wir in der Zukunft vor der Aufgabe stehen, den Wiederaufbau der Ukraine zu unterstützen. Es ist notwendiger denn je, der Kultur der Ukraine unsere Aufmerksamkeit zu widmen und sie zu fördern, wo wir können.
Philipp Ther
(* 1967) ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien, er leitet dort auch das Research Center for the History of Transformations (RECET). Zuvor hatte er am EUI in Florenz eine Professur für vergleichende Geschichte Europas inne. 2019 erhielt er den Wittgenstein-Preis des österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF).