DIE WEIßE GARDE
In seinem Zeitroman „Die weiße Garde” (1924) zeichnet der in Kiew geborene Michail Bulgakow ein vielstimmiges Panorama dieser Stadt in den Wirren des Bürgerkriegs: eine eindrückliche Stellungnahme der Literatur gegen Krieg und Gewalt. Am 10. März 2022 war eine Lesung des Burgtheater-Ensembles aus diesem Roman im Stream zu sehen. Der hier veröffentlichte Auszug folgt einem der Protagonisten, dem siebzehnjährigen Nikolka Turbin, auf seinem Weg in den Kampf.
Der Telefonstimme Folge leistend, führte der Unteroffizier Turbin Nikolaj 28 Fahnenjunker hinaus und durch die ganze Stadt entlang der vereinbarten Route. Die Route führte Turbin und die Junker zu einer Kreuzung, die totenleer war. Keinerlei Leben herrschte dort, aber umso mehr Gedonner. Rings herum – am Himmel, gegen Dächer und Wände – donnerten Maschinengewehre. Der Gegner sollte offenbar hier sein, denn dies war der letzte, finale Punkt, den die Telefonstimme genannt hatte. Doch vom Gegner war bislang nicht viel zu sehen, und Nikolka geriet etwas durcheinander – und wie soll es jetzt weitergehen? Seine Fahnenjunker, ein wenig blass, aber dennoch tapfer wie ihr Truppführer, legten sich als Kette über die verschneite Straße, und der Schütze Iwaschin ging in die Hocke vor dem Maschinengewehr am Straßenrand.
„EIN GEWALTIGES JAHR, EIN FURCHTBARES JAHR WAR NACH CHRISTUS DAS JAHR 1918, NACH DER REVOLUTION DAS JAHR 2.“
„Nein, ich hab keine Angst“
Die Junker blickten gespannt in die Ferne, streckten die Köpfe vom Boden hoch, warteten: Was geschieht hier eigentlich? Ihr Anführer war voll von dermaßen wichtigen und bedeutsamen Gedanken, dass er sogar dünner und blasser wurde. Zunächst einmal staunte der Anführer darüber, dass an der Kreuzung alles das fehlte, was die Stimme versprochen hatte. Hier, an der Kreuzung, sollte Nikolka die Einheit des 3. Bataillons treffen und für sie „eine Verstärkung bilden“. Erstens es war keine Einheit da. Noch nicht einmal die Spur von einer Einheit. Zweitens, staunte Nikolka über die Tatsache, dass das kämpferische Maschinengewehrgehacke zeitweise nicht nur von vorne kam, sondern auch von links und womöglich sogar ein wenig von hinten. Drittens hatte er Angst, sich zu fürchten, und prüfte sich die ganze Zeit über: „Und? Hast du Angst?“ – „Nein, ich hab keine Angst“ –, antwortete wacker eine Stimme im Kopf, und vor Stolz, dass er offensichtlich so tapfer ist, wurde Nikolka noch blasser. […
– Wir werden hier warten –, sagte Nikolka den Fahnenjunkern und war bemüht, seine Stimme sehr selbstbewusst wirken zu lassen, die aber klang nicht sehr selbstbewusst, weil ringsherum alles ja doch ein wenig anders war, als es hätte sein sollen, mal wieder irgend so ein Kokolores. Wo bleibt die Einheit? Wo bleibt der Gegner? Seltsam, dass anscheinend von hinten geschossen wird. Und der Anführer mit seinem Heer wurde für das Warten belohnt. In der Quergasse, die von der Kreuzung zum Brest-Litowsker Pfeil führte, knallten auf einmal Schüsse, und graue Gestalten kullerten nur so durch die Gasse in hitziger Hast. Sie rasten zu auf Nikolkas Junker, und die Gewehre ragten in alle Richtungen. „Überholt?“ –, erscholl es in Nikolkas Kopf, er machte eine ruckartige Bewegung, unwissend, was er befehlen soll. Aber schon einen Augenblick später bemerkte er goldene Flecken auf den Schultern von manchen Laufenden und begriff, es waren die eigenen Leute.
Lauft, lauft mit uns! Rette sich, wer kann! Nikolkas Junker aus der Kette fingen bestürzt an aufzustehen.
Gewichtige, wuchtige, völlig gehetzte Konstantin-Junker in Papachas blieben plötzlich stehen, fielen auf ein Knie und sandten blass aufblitzend zwei Salven in die Gasse, aus der sie gelaufen kamen. Und auf sprangen sie, warfen weg die Gewehre und überquerten stürmisch die Kreuzung, direkt an Nikolkas Einheit vorbei. Unterwegs rissen sie sich die Schulterstücke, die Patronentaschen und die Gürtel vom Leibe und warfen sie in den zerfahrenen Schnee. Ein wuchtiger grauer gewichtiger Junker wandte, als er an Nikolka vorbeilief, den Kopf Nikolkas Einheit zu, um außer Atem schallend zu schreien: – Lauft, lauft mit uns! Rette sich, wer kann! Nikolkas Junker aus der Kette fingen bestürzt an aufzustehen. Nikolka war vollkommen von Sinnen, doch im selben Moment riss er sich am Riemen, dachte blitzartig: „So ein Augenblick, in dem man sich als Held beweisen kann“ – und rief mit seiner durchdringenden Stimme: „Keiner rührt sich! Meine Befehle abwarten!! „Was machen die?“ –, dachte Nikolka entnervt. Die Konstantin-Junker – etwa zwanzig Mann – entwichen der Kreuzung ohne Waffen, zerstreuten sich in der Laternengasse, und ein Teil stürzte sich sogleich auf das riesige erste Tor. Furchtbar erdröhnten die eisernen Pforten, und die Stiefel trampelten im schallenden Durchgang. Das zweite Häuflein durchs zweite Tor. Es sind nur noch fünf übriggeblieben, sie beschleunigten ihren Lauf, eilten entlang der Laternengasse, bis sie in der Ferne verschwanden.
Michail Bulgakow: Die weiße Garde. Neu übersetzt von Alexander Nitzberg. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018