EUROPA, FÜRCHTE DICH NICHT!

Juri Andruchowytsch

Juri Andruchowytsch, einer der wichtigsten ukrainischen Schriftsteller der Gegenwart, schrieb für die Benefizveranstaltung zugunsten der Menschen in der Ukraine im Burgtheater am 13. März 2022 eine Rede, die von den Ensemblemitgliedern Nicholas Ofczarek und Martin Schwab vorgetragen wurde.

Einen Abdruck dieses Texts veröffentlichen wir hier.

Juri Andruchowytsch
© Susanne Schleyer

Es war im Jahr 2009. Als progressive europäische Hauptstadt bereitete sich Berlin in vielfältiger Weise auf das 20-jährige Jubiläum des Mauerfalls vor. Eines historischen Ereignisses, infolgedessen Europa endlich wieder vereint war. Die Berliner Akademie der Künste plante einen Zyklus von Jubiläumsabenden und bestellte bei mir einen Text, den ich bei einer Veranstaltung lesen sollte. Ich nutzte die Einladung, um einen Essay unter dem Titel „Trotzdem eine Mauer“ zu schreiben. Ganz bewusst trübte ich den fröhlichen, fast schon festlichen Ton der anderen Auftritte und begann folgendermaßen: „Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, dass die Wiedervereinigung Europas, seines Ostens und seines Westens, die vor zwanzig Jahren so schön begann, erstens glücklich und zweitens überhaupt vollendet sein soll. Das heißt ich glaube nicht, dass wir heute, im Jubiläumsjahr, das Recht haben, vom „neuen Europa“ als von einem unbestreitbaren historischen Erfolg zu sprechen. Und natürlich weiß ich, was, außer dem Gespenst einer Weltwirtschaftskrise, meine Festtagsstimmung stört.“

Mein Text war bitter. Nein, ich machte mir keine besonderen Illusionen, dass er etwas bewirken würde.

Es störte mich alles, was die Ukraine betraf. Für die Ukraine war die Mauer noch nicht gefallen. Sie hatte zwar schon ein paar Löcher bekommen, aber wir blieben weiter auf der schlechten Seite. Das Jahr 2009 brachte den endgültigen Niedergang des Drives der Orangenen Revolution, unzählige Spaltungen und unermesslichen Verrat im proeuropäischen politischen Lager, einen immer verbisseneren gegenseitigen Vernichtungskampf zwischen Herrn Juschtschenko und Frau Tymoschenko, immer offener zur Schau gestellte Frechheit der prorussischen Opposition und ein paar weitere äußerst unangenehme Phänomene.

Die Einstellung der Europäer uns gegenüber – der Eliten wie der gewöhnlichen Menschen – verschlechterte sich merklich und näherte sich in rasantem Tempo dem Nullpunkt. Eben war der Zweite Gaskrieg zu Ende gegangen – mit der Moskauer Unterzeichnung schändlicher Knebelverträge. Europa verstand, dass die Ukraine schwach war, gespalten und überaus unzuverlässig. Die orangene Schönheit des Maidan versetzte niemanden mehr in Schwingungen und galt in jeder Diskussion nicht als Argument, sondern als schlechter Ton.

Russland hingegen wurde alles verziehen – von der militärischen Zerstückelung Georgiens und der Besetzung seines Territoriums bis zur schändlichen und zynischen Erpressung der Ukraine mit Gas. Mit ein bisschen Übertreibung konnte man diesen ganzen Mist folgendermaßen verallgemeinern: Russland hatte das herausgepresst, was es wollte – aus Europa ebenso wie aus uns. Vsjo pasvoljeno – alles erlaubt!

Mein Text war bitter. Nein, ich machte mir keine besonderen Illusionen, dass er etwas bewirken würde. Die Akademie der Künste ist zwar ein im intellektuell-kulturellen Sinne bedeutender Ort, findet aber in den Kabinetten der übel beleumundeten deutschen Realpolitik kaum Gehör. Ich rechnete nicht mit einem echten politischen Effekt, musste aber zumindest meiner Bitterkeit Ausdruck verleihen. Den unzeitigen Feiertag wenigstens ein bisschen verderben.

Und trotzdem bin ich überzeugt: Trotz allem werden wir zusammenkommen müssen.

 


 

Am Ende hieß es bei mir: „Wieder habe ich aufgehört,ein Optimist zu sein, aber ich höre nicht auf, dickköpfig meine Lieblingsthese zu wiederholen. Ich habe mich in ein und dieselbe Idee verrannt: Europa wird sich auf jeden Fall für die Ukraine öffnen müssen. Das widerspricht in entsetzlichen Maße dem heutigen Stand der Ukraine, und im selben Maße, wenn auch auf andere Weise, widerspricht es dem heutigen Stand Europas. Mit einer gewissen rationalen Übertreibung kann man behaupten, dass die Ukraine auf ihrem „Weg zur Freiheit, wo die europäischen Völker warten“ heute ungefähr dort ist, wo sie sich vor zehn Jahren befand, Ende der 90er Jahre. Also in der Grauzone postsowjetischer Perspektivlosigkeit – um die Dinge beim Namen zu nennen. Und trotzdem bin ich überzeugt: Trotz allem werden wir zusammenkommen müssen. Dafür gibt es eine einzige, aber hundertprozentige Garantie: Russland. Unser großer und mächtiger nordöstlicher Bruder wird alles dafür tun. Die Frage ist nur, welcher Preis für diese künftige europäische Wahl zu entrichten sein wird – und zwar schon im nächsten Jahrzehnt.“

Als ich zu Ende gelesen hatte, bekam ich sogar Applaus. Ich fürchte, dass kaum jemand in diesem vor Intellekt glänzenden Auditorium meinen Sarkasmus erfasste, besonders bezüglich des „nordöstlichen Bruders“. Vielleicht freuten sich die Anwesenden, dass ich für ihre geliebten Russen so warme Worte fand. Ich weiß nicht wer meinen letzten Satz – über den Preis – wie verstand. Mir ging es um die höchsten möglichen Kosten: unzählige ukrainische Leben, Zerstörungen, Brandstätten, Kultur- und Naturkatastrophen – um all das, was die Kriegsverbrecher aus Russland in die Ukraine getragen haben – genau 13 Jahre, nachdem ich meinen Essay schrieb. Genau 13, denn das Datum auf der Datei zeigt den 6. März 2009.

Bei uns sterben Kinder, Mütter, Väter, Alte und Junge. Jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde.

Russland hat also die von mir damals vorhergesehene Garantie eingelöst. Nicht ganz im nächsten Jahrzehnt, wie ich schrieb, sondern im übernächsten. Obwohl, wenn man bedenkt, dass Russland diesen Krieg schon 2014 begonnen hat, dann doch im nächsten.

Und Europa? Entspricht seine Antwort nun dem, was ich so viele Jahre erhoffte? Ja, Europa hat sich geöffnet. Jedenfalls an den Grenzen für Flüchtlinge. Zumindest das.

Aber die massenhaften blau-gelben Dekorationen genügen mir nicht mehr, die totalen Stürme von Begeisterung und Empathie, das betäubende Klatschen im Stehen und die Demonstrationen einer halben Million im Zentrum eben jenes Berlins und dutzender anderer Städte. Das ist alles rührend und wunderbar. Aber es genügt mir nicht: Bei uns sterben Kinder, Mütter, Väter, Alte und Junge. Jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde. Unser Land stirbt, seine Städte, Brücken, Gebäude, Flughäfen, Kulturdenkmäler.

Jetzt ist viel mehr gefordert als für uns zu beten und zu weinen. Nicht nur Güte und Gastfreundschaft, nicht nur Wärme und unterstützende Worte, sondern auch furchtlose Tat. Europa, fürchte dich nicht! Werde groß, kämpfe, reiß die Mauer ein.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr

Juri Andruchowytsch
Juri Andruchowytsch
© Susanne Schleyer

Juri Andruchowytsch

geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, studierte Journalistik und begann als Lyriker. 1985 war er Mitbegründer der legendären literarischen Performance- Gruppe „Bu-Ba-Bu” (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen „Rekreacij” (Karpatenkarneval), „Moscoviada” und „Perverzija” (Perversion), die unter anderem ins Englische, Spanische, Französische und Italienische übersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden.

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