Über die eigenen Körper hinaus
ZUR LAGE IM IRAN
Die Proteste im Iran sind vielschichtig. Die aktuelle Bewegung verknüpft ihre Ansprüche mit feministischen, sozialen und politischen Forderungen, die den Sturz des patriarchalen, anti-semitischen und mörderischen Regimes zum Ziel haben. Schon 1979 stand auf den Bannern der Frauen, die im Iran nach dem Sturz der Schah-Diktatur auf die Straße gingen: „Die Freiheit ist universell / weder östlich noch westlich“. Aus der Kollektivierung der Erinnerung an die eigene Geschichte, an Verlust und Enttäuschung entstehen Kraft und Mut, von einer gerechteren, besseren Welt zu träumen – und für sie zu kämpfen.
Der Text von Mehdi Moradpour erschien zuerst in „Theater heute“, Ausgabe 12/22. Wir danken dem Autor und „Theater heute“ für die freundliche Abdruckgenehmigung.
Der Anfang einer Liebesgeschichte im Iran während der schiitischen Trauerrituale könnte so verlaufen: Es ist „Moharram“, der erste Monat des nach Mondjahren rechnenden islamischen Kalenders. Wir sind am Rande einer Metropole. Weiße Maulbeerbäume, massive Rohbauten und vollgestellte Onkel-Mammad-Läden fallen ins Auge. Eine Prozession nach der anderen schiebt sich durch den Stadtteil. Am Rande einer Trauerprozession spielen Kinder mit Plastikbällen. Andere tragen mit grünen, schwarzen oder roten Tüchern verzierte Stangen, Standarte oder Embleme. Hier und da hören wir einen Geschichtserzähler, der mit trauriger Stimme elegische Gedichte rezitiert. Oder wir sehen Männer, die sich auf die Brust schlagen oder geißeln – ähnlich wie auf den Bußprozessionen der spanischen Karwoche. Es gibt regimenahe Brustschläger, aus welchen Gründen auch immer in Trance geratene Büßer und Hobbygeißler. Die Mehrheit schlägt sanft und rhythmisch mit der flachen Hand auf die bekleidete Brust.
Im Taumel der Trommelschläge richten sich die Blicke zweier neugieriger Jugendlicher aufeinander: die Pupillen erweitert, die Nasenlöcher geweitet, die Lippen unruhig, bewegen sie sich aufeinander zu. Plötzlich kommt jemand dazwischen, und dann ein Zusammenprall, ein Bluttropfen im Mundwinkel. Sie ziehen weiter, gehen auf den Wochenmarkt, stehlen Obst und laufen weg, vorbei an den üppig inszenierten Passionsspielen, an Blütenständen der Robinien und ideologischem Schutt: Billboards mit Propagandasprüchen oder Wandmalereien von Regime-Funktionären, Verstorbenen des Ersten Golf-Krieges oder Warlords. Am Rande eines Kanals bleiben die beiden neben einem Walnussbaum stehen, verstecken sich hinter den Hecken und küssen sich. Plötzlich hören sie von Weitem Heulgeräusche und sinken schnell zu Boden. Es ist zu spät. Die gefürchteten Motorräder fahren in ihre Richtung und halten vor den Hecken. Ein Auspuff macht ein letztes Knallgeräusch. Zwei Anfangzwanzigjährige, die für die inoffizielle Bassidsch-Miliz arbeiten, steigen aus. Das sind Menschen, die aggressiv gegen die Verletzung religiöser Vorschriften vorgehen sollen, neben der offiziellen Gascht-e Erschad – der Moralpolizei, die am 13. September 2022 Jîna Mahsa Amini festnahm und in die Strafanstalt brachte, sie starb drei Tage später in Folge von schweren Kopf- und Körperverletzungen.
Es gibt keinen Weg zurück.
Die beiden Motorradfahrer, die kaum einen Bartflaum haben, gehen direkt auf die Hecke zu. Sie wollen wissen, warum sich die zwei Jugendlichen versteckt haben und wer sie überhaupt sind. Dann wollen sie sie in die Moschee mitnehmen, wo ihre Zentrale ist. Es kommt zu einem Streit, einer Schlägerei. Am Ende entkommen die zwei Jugendlichen. Sie rennen weg um ihr Leben, schleifen ihre Turnschuhe auf dem Boden. Später hält einer von ihnen das Geschehene in einem Tagebuch fest, und auch den auf dem Papier verschmierten Bluttropfen.
Während wir diese Zeilen lesen, könnte sich theoretisch eine ähnliche Szene im Iran abspielen. Auch wenn es gerade keine staatlich finanzierten Trauerzeremonien gibt; keine Wehklagen um den Tod des Prophetenenkels Hossein und den seiner Anhänger, die im Jahre 680 in einer Schlacht beim zentralirakischen Kerbela gestorben sind; keine Nachstellungen von heroischen Märtyrertoden oder dämonisierenden Grausamkeiten der Gegner von Hossein. Was aber zurzeit stattfindet, sind andere Ereignisse und andere persönliche und kollektive Handlungen, die von Trauer und Entsetzen geprägt und von Zuversicht gedrängt sind:
Eine Teenagerin schlägt einem Mullah den Turban vom Kopf; Schülerinnen strecken in ihren Klassenzimmern dem Gründer der Islamischen Republik Khomeini oder seinem Nachfolger Khamenei ihren Mittelfinger entgegen; Beschäftigte in der Öl-Industrie gehen in den Streik und bilden Barrikaden; eine Protestierende geht mit wehenden Haaren an einem erschöpftem Soldaten vorbei; Studierende, Kunstschaffende und Journalist*innen verschwinden in den Foltergefängnissen; ein Kind weint am Grab seiner von Scharfschützen ermordeten Mutter; eine Oma diskutiert auf offener Straße mit bis an die Zähne bewaffneten Polizisten; eine junge Frau bietet auf der Straße „kostenlose Umarmungen“ an, „für die traurige Nation im Iran“; ein Vater bricht in Tränen aus und sagt, dass der Tod seines 16-jährigen Sohnes nicht umsonst gewesen sein wird; zwei Molotowcocktails setzen eine Station der Bassidschis in Brand; mit automatischen Gewehren bewaffnete Revolutionsgarden zerren zwei Jugendliche in einen Krankenwagen, den sie für Festnahmen umfunktioniert haben; die Justizbehörde verhängt Todesurteile gegen Demonstrierende; ein Schüler schreibt auf Instagram: „Seitdem mein guter Freund verhaftet worden ist, kann ich nicht schlafen“; Sprechchöre singen mit Liedern das Ende des Islamischen Regimes herbei.
Eine Bevölkerung überschreibt gerade die ihr vererbte Geschichte.
Eine Bevölkerung überschreibt gerade die ihr vererbte Geschichte. Dabei geht es weniger darum, sich von der alten ganz „loszusagen“ oder eine ganz neue zu „machen“, sondern um die Art und Weise, wie die Proteste sind, wie sie sich zum Verlorenen verhalten und wie sie sich – inhaltlich und physisch – aufrichten. Für die Protestierenden aus unterschiedlichen Ethnien, Schichten und Generationen, mit verschiedenen sexuellen Orientierungen oder Religionen steht eine Tatsache fest: Es gibt keinen Weg zurück. Sie bedienen sich verschiedener Handlungsformen. Sie greifen Parolen, Lieder und Aktionen anderer Menschen und Gruppen auf, wiederholen sie immer wieder, zitieren sich gegenseitig, erinnern aneinander. Die Menschen sind dezentral organisiert, kommen meist spontan zusammen und wechseln ihre Orte regelmäßig. Und sie trauern gemeinschaftlich. Jeder Verlust, jede Enttäuschung ist öffentlich; und politisch. Jeder Trauerfall gehört allen. Allen Widerständigen, die sich weder auf eine Rettung seitens sogenannter Reformen einlassen noch die Täuschung akzeptieren wollen, dass sie zukunftslos sind.
Die feministische Bewegung weiß um ihre eigene Beschaffenheit, um die Bedeutung und die Reichweite ihrer Anliegen. Sie kennt den demokratischen Horizont, für den sie tagtäglich kämpft. Es gilt, Angst, Verzweiflung, Wut und Enttäuschungen über die Niederschlagung der Freiheitsbestrebungen der letzten Jahrzehnte in neue Taten umzusetzen: Dem Ungeheuer der verrotteten Islamischen Republik und ihren Unterdrückungsorganen direkt in die Augen zu schauen, ihre brutalen Angriffe mit schöpferischen Mitteln zu kontern, ihnen einen Schritt voraus zu sein und sie ununterbrochen mit unzähligen Schlägen und Stichen zu versehen. Bis sie umkippen, in Staub zerfallen oder fliehen. Bis alle Schaltstellen und Nischen der staatlichen Macht in Erschütterung geraten sind. Das klingt dystopisch. Martialisch. Wie in einem Computerspiel, einem Survival Game oder in Battle Royal-Spielen, wo es darum geht, möglichst lange zu überleben. Es ist ein Krieg. Einer, der ein hochausgerüstetes, anti-modernes, patriarchal-klerikales und anti-semitisches Regime gegen seine eigene Bevölkerung, gegen Frauen, Mädchen und Minderheiten führt.
Und die Menschen im Iran wehren sich nicht nur auf der verbalen Ebene, sondern auch mit dem Mittel, das für die Transformation wesentlich ist: ihren eigenen Körpern. Sie haben die Dimension dieser Kriegsführung verstanden. Sie spüren den Drang, den Lebensnerv des Regimes durchzuschneiden. Auf nicht wenigen Videos sah man in den letzten Wochen und Tagen Studierende rufen:
„Tup, tānk, mosalsal digar asar nadārad / be mādaram beguid, digar doḫtar nadārad“
(Kanonen, Panzer und Maschinengewehre bewirken nichts mehr / Sagt meiner Mutter nun, sie hat keine Tochter mehr)
oder
„miǧangim, mimirim, Irano pass migirim“
(wir kämpfen, wir sterben, wir werden uns den Iran zurückholen).
Das Blut fließt und entscheidet über Leben und Tod. In den Adern und auf den Straßen.
Ich zittere, wenn ich diese musikalischen Parolen höre. Diese rhythmischen Schreie schießen durch meine Adern, in denen das Blut zu stocken droht. Und ich frage mich: Wie soll es dann den Protestierenden, den Verhafteten und ihren Angehörigen im Iran gehen? Eine Bekannte, die bisher mehrmals auf den Demonstrationen geschlagen, einmal verhaftet wurde und mit Glück rausgekommen ist, schreibt mir, es gäbe keinen Weg zurück, sie können nicht mehr. Sie fragt mich, rhetorisch, ob die Nachricht ernst gemeint sei, dass die westliche Staatengemeinschaft mit diesem Regime wieder an einem Verhandlungstisch sitzen wolle. Ich habe keine Antwort für sie. Sie fährt fort: Am Ende bringen die Körper der Frauen den Wandel.
Die Freiheit des weiblichen – und queeren – Körpers kommt für das starre Regime der Unkontrollierbarkeit eines großen Teils der Gesellschaft gleich und ist somit eine rote Linie. Die Autorin und Frauenrechtlerin Azadeh Davachi weist darauf hin, dass sich die Islamische Republik seit Jahrzehnten unter anderem über die umfassende Einschränkung der Frauenrechte und die Kontrolle über weibliche Körper legitimiert. Diese Kontrolle etabliert die allgemeine Politik des Regimes in Bezug auf Körper in der Öffentlichkeit und klärt gleichzeitig das Verhältnis von Männern und Frauen in der Gesellschaft und innerhalb der patriarchalen Familie. Doch die ideologischen Grundlagen des Regimes sind durch die Ereignisse der letzten Wochen und die durchdringende Schlagkraft des Transformationswillens der Proteste im Iran massiv ins Wanken geraten.
Mir scheint jedoch, dass diese Tatsache weder in den realpolitischen Einschätzungen noch in der westlichen Berichterstattung so gesehen oder verstanden wird. Wochenlang wurden die Proteste ignoriert oder kleingeredet. Einige „Expert*innen“ schienen vielmehr daran interessiert zu sein, herauszufinden, wann sie enden, wie heftig sie diesmal niedergeschlagen würden oder welche Art von Unordnung und Zerfall nach dem möglichen Sturz des Regimes herrschen würde, als ergründen oder untersuchen zu wollen, welche Triebkräfte die Bewegung besitzt und welche Energien sie freisetzt. Sie schauen auf das Land, als wäre es ein Sumpfgebiet.
Eine ähnliche Fehleinschätzung geschieht auf der politischen Bühne des Westens, wo augenblicklich ein Trauerspiel zu beobachten ist: Die EU und USA jagen trotz des ständigen Hegemoniestrebens des autoritären Regimes im Nahen und Mittleren Osten immer noch der Illusion nach, es wäre möglich ein neues Atomabkommen mit einem Regime zu unterzeichnen, das seine Macht seit einem Jahrzehnt (selbst unmittelbar nach dem Atomdeal von 2015) in der Region ausbaut, in dem es Terrororganisationen und Milizen mit allerart militärischer Ausrüstung und strategischem Know-how ausstattet. Während also die Bevölkerung Irans versucht, mit allen Mitteln die Islamische Republik loszuwerden, halten westliche Regierungen an energiepolitischen und geostrategischen Verbindungen zu diesem Regime fest. Als wäre es ihnen nicht möglich, sich sein Ende zumindest vorzustellen.
Dabei erfährt die Sphäre des Politischen im Iran aktuell eine immense Aufladung. Im Bewusstsein über die Trostlosigkeit der Lage und die Notwendigkeit einer politischen Metamorphose vollzieht sich ein neuer geschichtlicher Prozess. Der westlichen Staatengemeinschaft und ihren medialen Institutionen könnte es gelingen, die sich selbst genügende melancholische Verfasstheit in Bezug auf Freiheitsbestrebungen der iranischen Bevölkerung zu überwinden und den Blick endlich auf den zivilgesellschaftlichen Schauplatz im Iran zu richten, und zu handeln. Ob das gelingt oder ob der Westen immer noch von stereotypen und rein interessengeleiteten Vorstellungen und Handlungsformen angetrieben wird, wird sich zeigen. Die Menschen im Iran kommen zusammen, um als eine plurale Kraft und Präsenz gehört und gesehen zu werden. Sie denken und handeln über ihre eigenen Körper, über die private Trauer hinaus. Ihnen steht ein schwieriger Weg bevor. Doch die Bewegung, die wir vor Augen haben, öffnet sich unmissverständlich zu einer zukünftigen Geschichte. Sie möge und soll eine andere werden.
Mehdi Moradpour
ist Autor, Gerichts- und Community-Dolmetscher sowie Übersetzer für Persisch (Farsi & Dari) und Spanisch. Nach einem technischen Studium im Iran studierte er ab 2004 Hispanistik, Informatik, Soziologie, Amerikanistik und Arabistik in Leipzig und Havanna sowie ab 2014 Szenisches Schreiben in Graz. Währenddessen war er in verschiedenen Funktionen in freien Theatergruppen tätig und schrieb journalistische Beiträge über Kultur und Theater. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet und übersetzt. Zusammenarbeiten u. a. mit der Deutschen Oper Berlin, Maxim Gorki Theater, Theater Konstanz, Schauspielhaus Wien, Wiener Festwochen, Grips Theater und Theater Bremen. Seit der Spielzeit 2020/21 gehört er als Dramaturg zum Künstlerischen Leitungsteam der Münchner Kammerspiele.