Fragebogen #6: EUROTRASH
Am 12. Dezember 2022 besuchte Christian-Mathias Wellbrock, Universitätsdozent an der Hamburg Media School, eine Vorstellung von EUROTRASH nach Christian Kracht in der Regie von Burgtheater-Ensemblemitglied Itay Tiran. Wir haben ihn gebeten, seine Eindrücke mit uns zu teilen.
„DIE DOSIS MACHT DAS GIFT“
HABEN SIE MIT CHRISTIAN KRACHT EINE VORGESCHICHTE?
Leider nicht mit ihm persönlich, aber mit seinen Büchern, ja. Jedes einzelne, das ich von ihm gelesen habe, finde ich für sich großartig und besonders. Am meisten beeindruckt hat mich aber seine stilistische Vielfalt – von „Faserland“ und „Eurotrash“ bis hin zu „Imperium“.
WAS HABEN SIE ALS LETZTES GETAN, BEVOR SIE SICH AUF DEN WEG INS THEATER MACHTEN?
Ich habe mit Kolleg*innen der Wiener Medieninitiative im Gasthaus Grünauer gesessen, vorzüglich gespeist und mich angeregt unterhalten. Man hatte Verständnis dafür, dass ich etwas zeitiger losmusste. Ins Akademietheater? Kein Problem. Wir hoffen, Sie haben einen Gangplatz.
WAS HATTEN SIE AN? SIND SIE AUFGEFALLEN? IST IHNEN JEMAND INTERESSANTES IM FOYER AUFGEFALLEN?
Blaue Chino-Hosen, meine Lieblingssneaker (blau), ein helles Poloshirt und ein blauer Pullover. Im Nachhinein sehr blaulastig. Keine Absicht. Aufgefallen sind mir die Wiener*innen. Das liegt aber daran, dass ich seit langer Zeit das erste Mal wieder in Wien zu Gast war, und es sehr genossen habe.
IST IHNEN EIN BILD AUS DER INSZENIERUNG BESONDERS IM GEDÄCHTNIS GEBLIEBEN?
Die Inszenierung lebt ja nicht unbedingt von wechselnden Bühnenbildern, aber der Schnee und die herumwehenden Geldscheine in kaltem Licht – das hat schon gesessen.
KÖNNEN SIE SICH AN IHREN ERSTEN GEDANKEN, IHR ERSTES GEFÜHL NACH VORSTELLUNGSENDE ERINNERN?
Danke. Was für eine grandiose schauspielerische Leistung. Zweiter Gedanke: was für ein Glück, dass ich einen Gangplatz hatte.
DER ERZÄHLER IN EUROTRASH, CHRISTIAN, ERTRÄUMT FÜR SICH UND SEINE MUTTER EINE REISE NACH AFRIKA. WAS WÄRE IHR SEHNSUCHTSORT?
Mein Sehnsuchtsort ist, entspannt auf der Couch zu liegen und die Haare gekrault zu bekommen. Leider bin ich selten entspannt und steuere hart auf eine Glatze zu. Im nächsten Leben sollte ich vielleicht Hund werden.
FINDEN SIE ESKAPISMUS VERWERFLICH?
Auf keinen Fall! Eskapismus ist ein wichtiges Mediennutzungsmotiv und auch für die Psychohygiene nicht zu unterschätzen. Christian und seine Mutter sind sich in der gemeinsamen Realitätsflucht sogar am nächsten! Wie so oft gilt natürlich auch hier: Die Dosis macht das Gift. Und auch das Medium: besser im Theater als am Handy.
ANGENOMMEN, SIE KÖNNTEN SICH EINE*N GESPRÄCHSPARTNER*IN WÜNSCHEN, UM ÜBER DEN ABEND ZU SPRECHEN, WER WÄRE DAS? HÄTTEN SIE SCHON EINE ERSTE FRAGE AN DIESE PERSON?
Christian Kracht natürlich. Allerdings neige ich dazu, sehr schnell „star-struck“ zu sein, daher könnte ich sicher keine gescheite Frage formulieren und würde eher mit meinem Blick fragen: „Wie machen Sie das alles?“ Das wäre für uns beide eine seltsame Situation. Vielleicht spreche ich besser mit meinen guten Bekannten Hans König oder Volker Schmitt über das Stück. Sie schreiben und inszenieren von Berufswegen (meist in Bremen und Hamburg) – das gäbe für mich neue Einblicke, und ich kann etwas lernen.
HABEN SIE SICH VOM THEATER VERSTANDEN GEFÜHLT?
Das würde ich vom Theater nicht erwarten. Nur so viel: Bei EUROTRASH habe ich das Theater gefühlt. Alles richtig gemacht!
Christian-Mathias Wellbrock
ist seit April 2021 Leiter Innovation und Studium im Bereich Digital- und Medienmanagement der Hamburg Media School. Zuvor war er unter anderem Universitätsprofessor für Medien- und Technologiemanagement an der Universität zu Köln, Juniorprofessor für Medienmanagement an der Universität Hamburg und Visiting Assistant Professor an der Michigan State University. Er hat Volkswirtschaftslehre in Hamburg und Paris studiert. Christian Wellbrock forscht und lehrt insbesondere zu den Themen Management und Ökonomik des digitalen Journalismus und Plattformökonomik. Seit 2022 ist er Mitglied der Jury der Wiener Medieninitiative.
Zum Stück: EUROTRASH
Eine impulsive Taxifahrt von Zürich in das Innere der Schweiz unternimmt der Schriftsteller und Dandy Christian Kracht mit seiner an beginnender Demenz leidenden, Wodka- und tablettenabhängigen Mutter. Sie hat sechshunderttausend zu verschenkende Franken in einer Plastiktüte, Heißhunger auf die berühmten Forellen in der Sihlmatt und ein unstillbares Verlangen, afrikanische Zebras und Alpen-Edelweiß zu sehen. Der spontane Roadtrip ist Selbstheilungsversuch und hoffnungslose Flucht zugleich, eine letzte Chance auf einen halbwegs normalen Umgang miteinander, weg aus der Familienhölle.