Ich habe nichts zu schaffen mit der Ruhe
Yasmina Rezas Roman SERGE, in dem sie die Erinnerungskultur der Shoah aus jüdischer Perspektive neu befragt, stellt die Frage nach dem Erbe: Wie bleiben wir mit ihm in Kontakt? Während die Proben für die Uraufführung am 23.02.2023 im Akademietheater in vollem Gange sind, präsentieren wir als Fundstück ein Fragment aus ihrem Buch „Hammerklavier“.
Ich kann nicht warten, und ich kann nicht vernünftig warten.
Ich kann mich nicht vor der Zeit niederknien. Ich will es nicht. Was ich auch tue, ich werde rasch zugrunde gehen, ich kann diesen Augenblick nicht friedlich erwarten. Ich will keinen Frieden. Ich bin nicht dazu bereit. Ich habe das Alter des Krieges, und ich will das Los der Waffen. Ich habe nichts zu schaffen mit der Ruhe, mit der Geduld, dieser weichen Agonie. Nichts kommt je zum richtigen Zeitpunkt. Ich will gern völlig verbraucht sein, wenn ich ausgedient habe. Wenn mein Feuer, und sei es auch nur ein einziges Mal, den Himmel in der Schlacht gestreift hat. Gestern hat Mamoune, die in ihrem rosa Wolljäckchen einer alten Dame allein in der Avenue Villiers im Bett liegt, zwischen zwei unverständlichen Sätzen zu mir gesagt: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich bin außerhalb der Zeit, außerhalb des Hauses, außer- halb von allem ...« Aber nein, habe ich gemurmelt und ihre Hand genommen. Und genau das steht am Ende der Geduld, dieser zur Tugend erhobenen Übereinkunft, das Schlafzimmer, das rosa Bettjäckchen und der körperliche Verfall. Am Ende der Geduld ist die Welt nur noch eine einzige Ruhestätte. Ich will noch gehen, ich will mich noch verlieren. Ich kann nicht auf das warten, was ich so stark begehre. Ich kann mich nicht dazu entschließen, es zeitlich zu bezähmen. Nichts kommt je zur rechten Zeit. Ich werde dir folgen, dachte ich und küsste ihre zerbrechliche Hand, leichte Feder in deinen traurig gesäumten Laken, ich werde du sein, außerhalb der Zeit, außerhalb des Hauses, außerhalb von allem auch ich, wenn die Stunde gekommen ist, mein Gott, lass mich noch ein wenig gehen, und lass mich, mich, die ich nicht warten kann, an diesem Tag den bitteren Geschmack der Verlassenheit kosten.
Es gibt Gebiete, die müssen dunkel bleiben.
Sprachlos ...
Rückkehr aus London im Eurostar.
Wir fahren an den tristen Backsteinhäusern entlang, die die Strecke säumen.
Wer wohnt dort? Wer steht jeden Morgen auf vor diesem niedrigen Horizont von Backsteinen, Kaminen, unerklärlichen Mäuerchen?
Ein paar Meter weiter werde ich nicht mehr daran denken. Ich werde an die Dinge denken, die mit mir reisen und mich nicht verlassen. Denn die Welt ist nicht außer sich. Außer sich ist die Illusion von der Welt und nicht die Welt. Ich werde an diese Dinge denken, die ich nicht schreiben kann und die ich nicht mitteilen kann. Ich besitze allem Anschein nach nicht diese Gabe der Verwandlung, die sie fremd erscheinen ließe. Es gibt Gebiete, die müssen dunkel bleiben. Weder unscharf noch unbekannt, sondern einfach ohne das Licht der Wörter.
Yasmina Reza: Hammerklavier. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé Carl Hanser Verlag, München 2012
Yasmina Reza
1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin. Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020, dem Premio Malaparte 2021 und dem Prix de l’Académie de Berlin 2022 ausgezeichnet. Yasmina Rezas Roman SERGE kommt in einer Inszenierung von Lily Sykes am 23.02.2023 zur Uraufführung im Akademietheater.