Schreibweisen #8: Sinfonien des Grauens
In ihrer zweiten Arbeit am Burgtheater nach DIE TROERINNEN widmen sich die australische Regisseurin Adena Jacobs und die österreichische Autorin Gerhild Steinbuch in NOSFERATU, Premiere am 19. Jänner 2024, der Frage nach dem Unsagbaren, das sich in der Figur des Vampirs manifestiert. Wir haben Gerhild Steinbuch gebeten, uns einen Einblick in ihren Schreibprozess zu gewähren.
„Nirgends zuhause, in keinem Haus, in keinem Menschen“
(Friedrich W. Murnau)
Ich folge dem Vampir auf leisen Sohlen, auf leisen Pfoten, aber er ist immer schneller, und dann im Spiegel abends und in jeder glatten Oberfläche immer nur mein eigenes Gesicht, viel ist das nicht. Wie man sich das Monströse vorstellt: immer möglichst im Abseits aufgestellt, abseits vom eigenen Stand- und Liegeplatz, abseits von Rastplätzen, Aussichtsplattformen, Wanderwegen, abseits der Landschaft und der Landschaften, die man sich gern erzählt, Landschaften, in denen Menschen herumstehen, für die man ein Gefühl hat, zu denen man gehört, gehört hat, die man nicht aus dem Körper kriegt. Wo man das Monströse aufstellt: bloß nicht dort. Das Monströse weiß schließlich nicht, wie es sich darin bewegen soll, es passt da nicht rein, und es hat kein Gesicht, das da reinpasst; das Monströse hat ein Gesicht, das sich zu erkennen gibt, als das, was es ist, es scheint nicht, gibt sich nicht aus als, das kann es nicht, natürlich nicht.
Wo man das Monströse also aufstellt: in einem weißen Raum, so kontextlos wie möglich. Da setze ich mich dann in meinen Stuhl und warte, dass es um die Ecke kommt, das Monstrum oder der Vampir oder dieses Schattenhafte, das ich nicht richtig ausmachen kann, es schwimmt mir in den Augenwinkeln weg, es haucht mir in den Nacken, aber packt mich nicht an. Mit dem Schattenhaften gehe ich spazieren, wir laufen durch Städte, die wir Orte sedimentierter Erinnerung nennen und in denen wir uns Fotonegative vors Gesicht halten, wir überlagern, damit was klickt, einrastet, knackt, aber der Film läuft weiter und die Füße laufen weiter. Manchmal laufen sie auch rückwärts, Leben im Loop, sie kreisen und beißen sich an den Neunzigerjahren fest, an der Bundeshymne nach Sendeschluss, und am Schuldeingeständnis im Nationalrat. Die Füße rennen, aber in die Zukunft kommen sie nicht, in Utopisches kommen sie ohnehin nicht, aber sie kommen auch in nichts anderes, der Körper bleibt an der Demarkationslinie stehen, an der Schwelle, dort, wo Platten, wo Erinnerungen aufeinandertreffen, aneinanderstoßen. Der Körper macht eine Vollbremsung an jeder Linie, hinter der er sich selbst nicht vorstellen kann.
Paläste der Erinnerung sind räumlich aufgespannte Erinnerungshilfen.
Ich schaue aus der Gegenwart hinein in meine Kindheit und erkenne nichts, erinnere nichts. Um mich zu erinnern, muss ich vorspulen, dann steh ich im Archiv, aus dem alles Mögliche auf mich einprasselt, gehe raus, hocke in der Gegenwart, harre möglichst aufrecht zwischen Sprachbewegungen, im Dauerreden, ein Dauerregen, aus dem immer was raus und gegen andere knallt. „Memory itself is a form of architecture“ (Louise Bourgeois): Meine Kindheit ist ein Haus, es hat Flure und Wände und Fenster und ein Dach. Es hatte einen Garten mit einer Schaukel, die von einem Ast hing, jetzt baumelt da bloß noch ein Seil mit einem Knoten, das im Wind hin- und herschwingt. Mein Gegenwartshaus ist ein Ort, an dem nichts an mich erinnert, an dem mich nichts verrät und an dem mich niemand findet, an dem mich nichts findet. Leergeräumt und höchstens vollgestellt mit Dokumenten, mit Vorder- und Rückseiten. Ich nehme eins, da steht: „I daresay you have heard of the Dream House? It is, as you know, a real place. It stands upright. It is next to a forest and at the rim of a sward. There used to be a swing dangling from a tree branch but now it’s just a rope, with a single knot swaying in the wind.“ (Carmen Maria Machado: Dream House) Da haucht schon wieder was im Nacken. Ich verlasse meinen Kopfpalast. Ich setz mich in die weiße Box und warte.
Der Körper macht eine Vollbremsung an jeder Linie, hinter der er sich selbst nicht vorstellen kann.
Paläste der Erinnerung sind räumlich aufgespannte Erinnerungshilfen. Hito Steyerl beschreibt das künstlerische Archiv als ebensolchen Erinnerungspalast, in dem Dokumente neu angeordnet werden können, in dem sich über das bewusste Lügen Wahres erzählt, alternative fiction statt alternative facts. Auch das Dream House ist ein Archiv, ein Archiv häuslicher Gewalt der Autorin Carmen Maria Machado, das ebenso re-enacted, re-imaginiert rekonstruiert. Etwas wird wieder zum Leben erweckt, wird erfahrbar, betrauerbar. Was heißt es, der Trauer um etwas beraubt zu werden, um die Trauer trauern zu müssen?
Vielleicht heißt trauern, sich auf etwas einzulassen, auf einen Prozess mit unklarem Ausgang, auf den Riss, ich taste die Haut ab – Mein Körper bremst an Kanten und Schwellen.
Ich laufe durch die Stadt, auf leisen Pfoten, und „der Vampir im Rücken übt den Kinderschritt“ (Ingeborg Bachmann). Wie man sich das Monströse vorstellt: Als etwas mit klarer Form, an der sich die eigene abstößt und fest wird. Grenzen hochziehen, Schwellen legen. Seit mich das Monströse interessiert, seit es mir aus den Augenwinkeln rutscht, seit es mir um den Hals liegt oder im Bauch sitzt, interessiere ich mich für Verschwinden. Ich sammle Modi des Verschwindens, sammle mich, wie ich verschwinde, „wie wir alle vielleicht lesbar nur kurz während wir verschwinden“ (Thomas Köck: ghost matters), ich verschwinde aber leider überhaupt nicht, ich bin sichtbar und sicher verankert, ich sehe anderen und anderem beim Verschwinden zu und finde mich in jeder Oberfläche. „Reading Dracula as a technology of monstrosity“ (Jack Halberstam: Skin Shows): Während ich in meinem pseudokontextlosen White Cube vor mich hinwarte, dass der Vampir endlich auftaucht, lese ich Schauergeschichten, an denen man sich ziemlich gut festhalten kann, nichts scheint, alles gibt sich zu erkennen, als das, was es ist, alles ist etwas, das mit mir nichts zu tun hat. „The technology of the vampires monstrosity, indeed, is intimately connected to the mode of the novel’s production” (Jack Halberstam: Skin Shows): In Bram Stokers Dracula ist klar, wer auf welche Seite gehört. Gut / Böse, Gesund / Krank, Mensch / Vampir. Dass die Trennlinie auch bei der Frage, wer erzählen darf, gezogen wird, ist auf den ersten Blick vielleicht weniger klar. Tatsächlich ist das Erzählen in Dracula bestimmten Figuren vorbehalten. Da gibt es Jonathan Harker, durch dessen Perspektive wir zum ersten Mal Dracula begegnen, der ihm also einen Körper gibt, da ist Dr. Seward, der aus medizinischer Perspektive die Hoheit darüber hat, wer Mensch ist und wer nicht, und da sind Mina und Lucy, deren Kontrolle über das, was erzählt wird, sich an der Nähe oder Distanz zu Dracula bemisst. Als Mina, Jonathan Harkers Frau, unter den Einfluss des Vampirs gerät und Dracula fortan ihre Gedanken kennt, darf sie die Pläne der anderen nicht mehr lesen. Dracula selbst kommt bei Bram Stoker nicht zu Wort, er hat keine Stimme, wird geschrieben, überschrieben, wird immer wieder überschrieben und muss immer wieder auferstehen, ein konstantes Ritual, um überschrieben zu werden, damit noch wer da ist, die man überschreiben kann, der man alles zuschreiben kann, was einem so einfällt an diversen Ängsten. Wie man sich das Monströse eben vorstellt.
Was mein Angstgefäß ausmacht, ist, dass es sich überall bewegt, auf Aussichtsplattformen rumsteht, in der Landschaft, zwischen Menschen, für die man ein Gefühl hat, zu denen man, ich, gehört. Es passt überall rein, gibt sich nicht zu erkennen, gibt sich aus als, das kann es, vor allem das. Was es auch kann, ist, dass es immer da ist, dass es immer mitläuft, dass es Säure auskippt gegen alles, was zählt, was für mich zählt. Der Vampir im Rücken übt den Kinderschritt, er tänzelt, ich stolpere, hinterlasse keine Spuren, fasse wenig an, schiebe meinen Stuhl von einer Ecke dieses schönen weißen Raums in die andere, atme mir in die Handfläche, horche, taste die Haut ab, die Sprache als zweite Haut, wie ein unverrückbares Zuhause, warte auf ihn. Vielleicht heißt trauern, sich auf etwas einzulassen, auf einen Prozess mit unklarem Ausgang, auf den Riss, ich taste die Haut ab – Mein Körper bremst an Kanten und Schwellen. Kanten überwindet er, Schwellen nicht. Kanten haben mit Disziplin zu tun, ihre Ränder sind scharf oder stumpf von vorhergehenden Versuchen, sie zu überwinden, heißt zu leisten: Der Raum dahinter ist ein Raum für Gewinner. Ich mag meinen Raum für Gewinner. Er ist ganz rein und weiß und aus dem Fenster schau ich in die Landschaft, lächle, sehe nichts.
Gerhild Steinbuch
geboren 1983 in Mödling, studierte Szenisches Schreiben am DRAMA FORUM in Graz und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Seit 2020 leitet sie das Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Sie schreibt Texte für Sprech- und Musiktheater, Hörspiele, Prosa, Essays, arbeitet als freie Dramaturgin sowie als Übersetzerin aus dem Englischen. Gewinnerin u.a. des manuskripte-Preises und des Stückewettbewerbs der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, Hausautorin am Schauspielhaus Wien,Teilnahme am Bachmann-Wettbewerb, an der International Residency am Royal Court Theatre London, zuletzt Stipendiatin des Berliner Ensembles 2021/2022.
Gerhild Steinbuch ist Gründungsmitglied von HYDRA, einer Autor*inneninitiative gegen die europäische Rechte sowie Mitinitiatorin von DIE VIELEN in Österreich.