Brief aus... #5 Ohio
In Peter Handkes frühem Stück „Kaspar“ wird Sprache als zentrales Medium der Vermittlung sozialer Normen und der Manipulation dargestellt. Daniel Kramers Inszenierung von KASPAR, die seit dem 10. November 2023 im Akademietheater zu sehen ist, beschäftigt sich demzufolge mit den unterschiedlichen Formen der Erziehung, Disziplinierung und Konditionierung und fokussiert dabei den Mikrokosmos Familie, in dem sich wiederum die Gesellschaft spiegelt. Passend dazu teilt Daniel Kramer in seinem „Brief aus dem Bible Belt“ Erinnerungen und Gedanken an sein Aufwachsen in einer Kleinstadt in Ohio und gibt damit den Hinweis auf eine wesentliche Inspirationsquelle seiner Inszenierung.
From Ohio with Love
Mittendrin im Bible Belt, dem Snow Belt und dem Corn Belt – eine gefährliche Kombination – Christen, die in der Kälte durch zu viel Maissirup fett werden.
Papa war Direktor in einer Mittelschule; Mama war Englisch-Lehrerin. Amerikaner des Mittelstands zogen in Scharen wegen der hervorragenden öffentlichen Schulen in solche Städte (für ihre Kinder das Goldene Ticket zu Elite-Universitäten, Karrieren und einem hohen Einkommen). Und Sport. So viel Sport.
Fast jeder Lehrer war in seiner High School-Zeit in einem Schulsport-Team und kehrte nach Hause zurück, um die eigene sportliche Jugend durch die Kinder noch einmal zu erleben. Dank staatlich verordneter Lehrpläne und jährlicher Standard-Tests musste kein Coach sich zu sehr mit der eigentlichen Kunst des Unterrichtens beschäftigen. Jede Schulwoche war erfüllt von der Vorfreude auf die Sportveranstaltung am Freitagabend, bei der Cheerleader die in uns allen unterdrückte Hysterie entfesselten.
AIDS war ein Segen Gottes, lehrten sie uns; aber gleichgeschlechtliche Küsse am Sonntag waren Pflicht?
Unsere Nachbarn gehörten der Missionary Church an oder waren Lutheraner, Mennoniten und – nicht allzu weit weg von uns – Amish. Die Amish faszinierten mich: schwarze Pferdekutschen mit geheimnisvollen Frauen, die sich unter Hauben verbargen und in einer fremden Sprache redeten. Und die Mennoniten-Kirche am Ende unserer Straße.
Dort begrüßten sich alle Männer mit einem Kuss auf die Lippen – eine religiöse Vorschrift.
Nur schwule Männer trugen ein Piercing am rechten Ohr und ganz sicher gab es keine Schwulen in unserer Stadt. Das Haus der einzigen schwarzen Familie wurde niedergebrannt. Die einzige koreanische Familie betrieb die Reinigung: die einzige chinesische Familie das China-Restaurant. Anne Frank war „die einzige Jüdin in der Stadt“. (Außer Tamara, die mir erst verriet, dass sie Jüdin ist, als wir 25 waren. Eine Ironie, dass sie als einziges Mädchen nicht in unserer Schulaufführung von Anatevka mitspielen durfte.)
Born in the USA. Indoktriniert von den USA.
Jeden Morgen in der Schule leisteten wir den Treueschwur auf die Flagge und strengten uns anschließend an, den unmöglich hohen Ton unserer Nationalhymne zu treffen – „for the land of the FREEEEEEEEEE ...“. Ein Ton, der – wie Tony Kushner anmerkte – so hoch ist, dass ihn fast niemand erreichen kann.
Die Schultage verbrachten wir damit, Fakten für Multiple-Choice-Tests auswendig zu lernen. Ich wurde aus dem Geschichtsunterricht geworfen, weil ich gefragt hatte, ob Öl das Motiv für den Golfkrieg sei. Aber uns wurde beigebracht, immer auf unsere Brieftaschen zu achten und die Straßenseite zu wechseln, wenn uns ein schwarzer Mann entgegenkommt.
Im Fernsehen haben wir die Perestroika und den Fall der Berliner Mauer mitverfolgt. Der größte Teil der zivilisierten Welt wollte wie wir sein, wurde uns gesagt. Wegen all der Dinge, die wir hervorbringen, wegen Blue Jeans, McDonald’s und Michael Jackson? Und weil Elvis unser Großvater war? Wir hatten sogar eine Stadt namens Hollywood, die Stars hervorbrachte: Supernova-Superstars, die in der Luft zerplatzten. Wir feierten unsere Nationalhymne genauso wie unsere Bomben.
Born in the USA. Indoktriniert von den USA.
Flucht war keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit.
Ich war neun Jahre alt, als mein Vater plötzlich starb; und die sorgfältig aufgebaute Illusion der Realität zerbröckelte. Doritos, Snickers und Coca-Cola, Gummibärchen, E.T. und Gremlins, Madonna, Geld und MTV, Gott, Jesus und Maria und auch der amerikanische Traum – Familie, Reichtum und Ruhm – konnten nicht diese Leere füllen.
Alles „lächerlich“, wie Kaspar sagt.
Mit neun Jahren befand ich mich plötzlich außerhalb ihres Systems und starrte alle Gegenstände wie nutzlose Eindringlinge an. Als ich älter wurde (und mir beide Ohren piercen ließ!), wurde der Abstand zwischen deren Realität und meiner inneren immer größer. Flucht war keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit.
Ich versuchte es mit Football, Basketball, Schwimmen und Selbstmord. Aber langsam wurde mir klar, dass mein einziger Ausweg darin lag, ihr Spiel in der Schulbildung mitzuspielen und zu gewinnen. Also erbrachte ich bei ihren Prüfungen Bestleistungen, gewann ihre Trophäen, sang ihr Lied und endlich traf ich den hohen Ton: „FREE“.
Chicago, New York, London, Brexit ins Nirgendwo hinein, Irland ... Wir können unser Zuhause verlassen, aber ob im Alter von 18, 27 oder 46 – man entdeckt hinter jeder Ecke noch ein verbliebenes subtiles Band: dieser kleine Gedanke da oben oder diese kaum spürbare tektonische Platte der Scham tief da unten ... Kleine Glassplitter, die noch immer überall in der Seele verstreut liegen – ein ganzes Leben lang hat man sie aufgesammelt, ein ganzes Leben lang hat man sich innerlich gefragt: Aber wer bin ich wirklich?
Etwas bessere Ameisenkolonien, die bald ihre eigene Heimat durch Ausschweifungen, Gier und Selbstvernichtung zerstören?
„Ziegen und Affen: Ziegen und Affen: Ziegen und Affen: Ziegen und Affen:“, wie Kaspar sagt.
Daniel Kramer
geboren 1977 in Wadsworth, Ohio, USA, ist Regisseur für Oper, Schauspiel und Tanz. Er arbeitete u.a. bei der Royal Shakespeare Company, beim Young Vic und am Gate Theatre in London und war von 2016 bis 2019 künstlerischer Leiter und Intendant der English National Opera in London. Er inszenierte darüber hinaus u.a. am Theater Basel, an der Genfer Oper und am Regent Theatre in Melbourne. In der vergangenen Spielzeit hat er ENGEL IN AMERIKA von Tony Kushner im Akademietheater inszeniert.