Editorial #13
von Victor Schlothauer (Dramaturgie)
Verehrtes Publikum!
Möchten Sie sich im Theater berauschen lassen? Am 12. November 2022 feierte Tony Kushners Kultstück ENGEL IN AMERIKA im Akademietheater Premiere. Darin werden die Leben unterschiedlichster New Yorker „Typen“ durch die verheerenden Folgen der beginnenden Aidskrise von Grund auf verändert. Bei dem Virus handelt es sich um eine unsichtbare Gefahr, deren volles Ausmaß zu diesem Zeitpunkt noch schwer einzuschätzen ist. Innerhalb wie außerhalb der schwulen Community greift Misstrauen um sich. Die zunehmende Einsamkeit von Kranken und Gefährdeten, die Angst und ihre gesellschaftlichen Folgen, setzt Kushner in seinem Stück parallel mit der politischen Durchsetzung des Neoliberalismus. Allgemeine Käuflichkeit und politische Korruption, die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags, der Verfall von Loyalität, Zuwendung und Verantwortungsbewusstsein prägen sein Zeitbild, ebenso wie die Furcht vor der Klimakatastrophe (1985 wurde man erstmals auf das Ozonloch aufmerksam). Im Hinblick auf die nahende Jahrtausendwende fühlen die Figuren im Stück alle Gewissheiten bröckeln, sie haben den Eindruck, an einer historischen oder auch kosmischen Schwelle zu existieren – und reagieren auf diese Hochdrucksituation mitunter durch Selbstvergiftung, sei es die Betäubung der eigenen Ängste durch Valium, oder die Suche nach Selbstvergessenheit im Hedonismus. Dieser Hedonismus und seine Ambivalenz haben den Regisseur Daniel Kramer in seiner Inszenierung inspiriert: der Rausch als Betäubung, aber auch das kreative Flirren, das Gefühl, elektrisiert zu sein. Vor allem inspirierte ihn die New Yorker Ballroom-Szene, in der Drag und Voguing als Kunstformen des Widerstands unterdrückter Minderheiten geprägt wurden. ENGEL IN AMERIKA im Akademietheater greift diese Kunstformen auf und erzählt Kushners Well-made-Play als zeitgeschichtlichen Mythos mit extravaganten Kostümen, großen Bildern und jeder Menge Glamour.
Intoxikation, die einen Rauschzustand hervorruft, ist nur eine Variation des Themas GIFT, dem wir uns in dieser Magazinausgabe widmen. In Dostojewskijs Roman DÄMONEN, den Johan Simons für das Burgtheater inszeniert, scheint die Gesellschaft im Russland des 19. Jahrhunderts an ideologischer Vergiftung zu kranken. Ein unerträgliches Gefühl gesellschaftlichen Stillstands bringt gefährliche Ideen hervor, die bis in unsere Gegenwart wirksam sind. Über Dostojewskij und die Gift-Metapher aus soziologischer Perspektive haben wir ein Gespräch mit der Literatursoziologin Carolin Amlinger geführt, deren gemeinsam mit dem Soziologen Oliver Nachtwey geschriebenes Buch „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“ jüngst bei Suhrkamp erschienen ist.
„A Very Expensive Poison“ – EXTREM TEURES GIFT – wiederum ist der Titel eines Sachbuchs des britischen Journalisten Luke Harding über den Mordfall Alexander Litwinenko: 2006 wurde der russische Dissident mit Polonium vergiftet – mutmaßlich im Auftrag des russischen Staates. Auf Basis von Hardings Recherchen hat die Dramatikerin Lucy Prebble ein Stück geschrieben, das im Kasino am Schwarzenbergplatz zur Deutschsprachigen Erstaufführung kommt. Ein Gespräch mit Harding über die Hintergründe lesen Sie in diesem Artikel.
Von dem Wiener Künstler Matthias Noggler stammt eine Serie von Illustrationen, die unterschiedliche Modi der Vergiftung abbilden. Weiters gratulieren wir in dieser Magazinausgabe dem Literaturnobelpreisträger Peter Handke zu seinem 80. Geburtstag, zeigen ein Kunstwerk des in Israel geborenen und in Berlin lebenden Künstlers Navot Miller, inspiriert von einem Probenbesuch bei ENGEL IN AMERIKA, und haben die Künstlerin Jakob Lena Knebl zu einer Vorstellung von REICH DES TODES, Rainald Goetz’ monumentalem Stück über die Ursprünge des politischen Bösen, eingeladen und befragt. Wir präsentieren in der Rubrik „Fundstück“ eine bislang unveröffentlichte Kurzgeschichte aus dem Nachlass der Autorin Maria Lazar, deren Roman DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT im Jänner auf die Bühne des Akademietheaters kommt, und haben den jungen Popsänger Oskar Haag um eine Playlist seiner Lieblingssongs gebeten. Haag zeichnet für die Musik zu Shakespeares entzückender Beziehungskomödie WIE ES EUCH GEFÄLLT in der Regie von Tina Lanik verantwortlich – wodurch wir wieder bei den verführerischen Seiten der Vergiftung angelangt wären. Mit dem neuen Burgtheater-Ensemblemitglied Dagna Litzenberger Vinet besuchten wir eine Ausstellung in der Kunsthalle Wien, und schließlich präsentieren wir die Gedanken der beiden Regisseurinnen Mia Constantine und Verena Holztrattner zu ihren bevorstehenden Inszenierungen für Kinder und Jugendliche im Burgtheater Vestibül.
Genießen Sie berauschende Theaterabende sowie solche, die Ihre Sinne schärfen – wir freuen uns auf Sie.