Raskolnikow in der Pension
Als Fundstück präsentieren wir Ihnen in dieser Ausgabe einen bislang unveröffentlichten Text von Maria Lazar: „Raskolnikow in der Pension“. Der Text ist Auszug aus einer Erzählung und Teil eines umfangreichen Nachlasses der Autorin, der jüngst in einer Londoner Wohnung gefunden wurde und vom Wiener Verlag Das Vergessene Buch editiert und veröffentlicht wird. Hier finden Sie den Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Verlag in voller Länge.
Den ganzen Nachmittag waren wir auf der Suche nach einer Pension gewesen. Uns graute vor der standardisierten Traulichkeit, der wir überall begegneten, vor den wulstigen Lampenschirmen, den gestickten Deckchen. Schliesslich blieb nur eine Adresse mehr übrig. Wir hatten sie bis zuletzt aufgehoben, denn der Preis war lächerlich billig. Was konnte das schon sein. Eine Studentenherberge bestenfalls.
Wir waren erstaunt, als wir bemerkten, dass wir uns in einem der vornehmsten Viertel der Stadt befanden. Noch mehr staunten wir, als wir das Haus betraten. Es glich einem alten Palais. Sollte das ein Irrtum sein? Nein, die Nummer stimmte. Wir trauten uns kaum zu klingeln und erschraken ordentlich, als ein altes Mädchen mit weissem Häubchen die Tür öffnete. Sie war von jener Feierlichkeit, wie sie nur hochherrschaftlichen Dienstboten oder Leichenbittern eigen ist.
Ach Gott, wir versuchten zuerst einmal uns zu entschuldigen. Wo war hier nur eine Pension, die in der Zeitung annonciert hatte?
- Eine Pension sind wir eigentlich nicht, aber wenn Sie bei uns wohnen wollen, die Baronin ist zu sprechen.
Gleich darauf standen wir vor der Baronin. Sie sass in ihrem Lehnstuhl wie in einer Karosse, umgeben von Ahnenbildern an der Wand, eine Baronin aus den achtziger Jahren, in Szene gesetzt von einem übereifrigen Regisseur. Und sie empfing uns mit wohlwollender Herzlichkeit. Natürlich könnten wir ein Zimmer haben, ein schönes Zimmer sogar war zufällig frei. Emilia sollte uns das Zimmer zeigen und die Nebenräume und den Speisesaal, falls wir uns gleich entschliessen möchten, für morgen schon....
Das alte Mädchen zeigte uns das Zimmer und wir fühlten uns wie Jagdgäste auf einem Herrenhof. Wir sahen auch im Speisesaal eine gedeckte Tafel voll Silber und Porzellan unter einem überwältigenden Kristalluster. Das ganze war , wenn überhaupt eine Pension, so eine Luxuspension, jedenfalls nichts für uns, und der Preis konnte nur durch Zufall in die Zeitung gerutscht sein.
Die Baronin, die weiterhin in ihrem Lehnstuhl sass - war sie gelähmt oder nur so schwerfällig in ihrer bleichen körperlichen Ueberfülle? — unterbrach uns, kaum dass wir stotternd über den Preis zu reden begannen. - Ich will es Ihnen gern auch billiger lassen.
Wir starrten sie an. Nein, es war kein Druckfehler gewesen und der Preis stimmte, jener Preis, der uns auf eine Studentenherberge vorbereitet hatte.
Die alte Dame lächelte ein wenig von oben herab. - Ich habe eine Vorliebe für mittellose Leute. Sie sind doch nicht wohlhabend?
- Oh gewiss nicht.
Und damit verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, morgen wieder zu kommen. Wir warfen noch einen Blick auf die gedeckte Tafel, ein sanfter Bratenduft zog durch die Räume, im Vorzimmer stand ein junges Ding, rothaarig, es legte eben den Mantel ab und flüsterte uns dabei zu: - Ich warne Sie.
Emilia öffnete die Tür mit einer Totenwächtermiene, wir taumelten über die Treppen, hätte nicht jeder von uns die unheimlichen Worte gehört, wir hätten unseren Ohren nicht getraut
Da sassen wir nun in unserer herrschaftlichen Pracht, aber ach, die hohen Wände schienen einzuschrumpfen, wir fühlten uns gefangen wie in einer Zelle.
Wir schliefen so unruhig, wie man nicht vor einer Uebersiedlung in einen anderen Stadtteil schläft, sondern vor einer Reise in ein wildes und abenteuerliches Land. Kaum waren wir auf, so wurden wir auch schon ans Telefon gerufen. Man teilte uns mit, dass die Baronin uns punkt zehn erwarte, nicht früher und nicht später.
Wir kamen also zur Minute, packten unsere Koffer aus, wunderten uns nochmals über die gewaltige Vornehmheit, verschoben die Betten, stellten den Tisch vor das Fenster, wie das eben so ist, wenn man wo einzieht. Bis auf einmal nach kurzem Klopfen die Baronin persönlich ins Zimmer kam. Sie warf einen Blick um sich, lächelte dann, wenn auch nicht ganz so herzlich wie am Tag vorher, und verlangte die Miete. Für drei Monate.
Für drei Monate?
Ja, selbstverständlich. Die Baronin betrachtete uns voll mitleidiger Würde. Bei diesem Preis. Wo anders müssten wir das dreifache zahlen. Für dieses Zimmer.
Sie hatte recht, vollkommen. Jedenfalls, wir zahlten alles, was sie verlangte, so wenig uns auch dann zurückblieb. Sie bat uns noch, rechtzeitig zum Lunch zu kommen, schob das Geld mit der Bewegung einer grossen Katze in die Tasche ihres Schlafrocks und schlürfte hinaus. Da sassen wir nun in unserer herrschaftlichen Pracht, aber ach, die hohen Wände schienen einzuschrumpfen, wir fühlten uns gefangen wie in einer Zelle.
Allerdings, die Mahlzeit, die uns kurz darauf geboten wurde, schien nicht eben für Sträflinge bestimmt. Emilia servierte eine Auswahl von raffinierten kleinen Speisen auf Silber und Porzellan, die Baronin sorgte für höfliche Konversation und die übrigen Gäste beteiligten sich daran mit gedämpfter Stimme. Dabei sprach jeder nur zu der Baronin, die gleich einem Magneten jeden einzelnen Satz an sich zu ziehen schien. Wir kamen kaum dazu, unsere Tischgenossen näher zu betrachten, sie waren wohl alle bescheidene Leute, Ausländer, ein ältlicher Franzose, ein deutscher Doktor, ein düsterer junger Russe und das rothaarige Mädchen, dem wir tags zuvor begegnet waren. Es warf hin und wieder einen Blick auf uns und benahm sich im übrigen wie ein Schulkind, das Angst hat, einen Teller zu zerbrechen. Nach seiner Aussprache war es eine Engländerin.
Wir wollten uns nicht recht eingestehen, wie verwirrend die ganze Atmosphäre auf uns wirkte. So gingen wir einmal spazieren. Und als wir zurück in unser Zimmer kamen, fanden wir Emilia eben im Begriff, alles umzuräumen. Warum? Die Möbel hätten so zu stehen, wie die Baronin es wünsche, war die Antwort. Warum? Emilia sah uns an, als hätten wir den Verstand verloren. - Das Zimmer ghört doch der Baronin.
Ja, das Zimmer gehörte der Baronin, und das Telefon, das man bestenfalls drei Minuten lang unter ihrer Kontrolle benützen durfte, die Luft in der Wohnung, die durch Zigarettenrauch nicht verpestet werden sollte, unsere Schritte, die ja nicht zu laut sein sollten, ja, sogar unsere Gedanken, die nun abgelenkt von jeder vernünftigen Arbeit sich immerfort mit diesem merkwürdigen alten Frauenzimmer beschäftigten. Was wollte sie von uns? Wozu das alles? Wer waren die anderen, unsere Mitgefangenen?
Wir erwogen eben diese Frage, als es schüchtern an die Tür klopfte. Die kleine Engländerin schlüpfte herein, nicht ohne rasch noch einen Blick hinter sich zu werfen. Ob wir sehr traurig seien? Nun, man gewöhnt sich an alles und ewig dauert es ja nicht. Und sie wollte uns nur darauf aufmerksam machen, dass es um die Ecke rechts bei dem Autostand eine kleine Kaschemme gäbe -
Weiter kam sie nicht, denn es klopfte wieder, und diesmal erschien die Baronin in einem lila Schlafrock, voll strahlender Liebenswürdigkeit. Sie liess sich bei uns nieder, eine Schlossherrin, die ihre Gäste beehrt, und sprach vom Wetter, der Teuerung, der Unzuverlässigkeit der Dienstboten und der Verderbnis der modernen Jugend. Sie bestellte Tee und Kuchen und Brötchen und Marmelade und wir verbrachten ein paar schaurige Stunden mit ihr. Die Engländerin hatte sich rechtzeitig mit einer verlegenen Entschuldigung gedrückt. Wo war sie nur? In der Kaschemme?
Am nächsten Abend suchten wir die Kaschemme jedenfalls auf. Und richtig, in einer Ecke dieser verrauchten Höhle, gedeckt von den guten breiten Rücken einiger Chauffeure kauerte unsere kleine Engländerin zusammen mit dem deutschen Doktor. Sie empfingen uns wie ein paar schon längst erwartete Verschworene.
Und wovon war die Rede? Von der Baronin, natürlich nur von der Baronin. Was wollte sie von uns? Der Doktor hatte seine eigene Theorie: die Baronin stand im Dienst einer Geheimpolizei, sie sammelte Ausländer, um sie zu beobachten. - Unsinn, sagte die rothaarige Engländerin, sie sammelt Ausländer, weil die Eingeborenen ihr nicht auf den Leim gehen. In jedem Lande kennt man die eigenen Hexen. Uebrigens - und damit wandte sie sich an uns - auf wie lange sind Sie verurteilt?
Wir erfuhren, dass der deutsche Doktor nur mehr vier Wochen abzusitzen hatte, während Raskolnikow, der Unglückliche, einen Vertrag auf sechs Monate unterzeichnet hatte, aus Begeisterung über einen wunderbaren Renaissanceschreibtisch. Raskolnikow war der junge Russe, er hiess zwar nicht Raskolnikow, selbstverständlich nicht, sondern irgend etwas unaussprechbares, man nannte ihn nur so, weil er -
Hier legte die Engländerin den Finger an die Lippen, denn hinter den Chauffeuren erschien soeben der Russe, bleich und unrasiert. Auf eine Erklärung seines Namens brauchten wir nicht länger zu warten, denn kaum sass er bei uns, so sprudelte er auch schon über von Mordgelüsten. Er war fest entschlossen, die Alte zu erschlagen, nicht vielleicht, weil er sich nicht beherrschen konnte, sondern, wie er immer wieder erklärte, aus Prinzip. Gegen Tyrannei, ob sie sich nun im Grossen offenbarte, in Staaten oder Kontinenten oder in einer verrückten kleinen Pension, gäbe es nur ein Mittel: die Gewalt.
Wir wussten nicht, ob wir ihm widersprechen, wir wussten nicht, ob wir ihn überhaupt ernst nehmen sollten. War es nicht lächerlich, dass wir uns so völlig aus dem Gleichgewicht bringen liessen, nur weil unsere tägliche Freiheit einigen ganz unbeträchtlichen Einschränkungen unterworfen war? Ob der Tisch nun an dem Fenster stand oder nicht, war das so wichtig? War es nicht lächerlich, dass wir hier wie ein paar aufsässige Schulkinder beisammen hockten, anstatt uns wohl zu fühlen in der Pracht der fürstlichen Räume, die uns zur Verfügung standen? Und war es nicht lächerlich, dass wir spät nachts mit schlechtem Gewissen diese Räume endlich aufsuchten und dabei ordentlich erschraken, weil die Baronin in der hell erleuchteten Hall sass und uns mit strengen Blicken musterte?
Wir hörten sie noch bis gegen Morgen durch die Gänge schlürfen, wir spürten, wie sie vor den Türen halt machte, um zu lauschen.
Aber am nächsten Tag hatte Emilia verweinte Augen wegen eines verschwundenen Handtuchs, und wir waren dabei, wie dem kleinen Franzosen, der sich von Sprachunterricht ernährte, bedeutet wurde, dass er seine Schülerinnen nicht bei sich empfangen dürfe. Damenbesuch nannte man das. Wir wurden gebeten, sehr höflich übrigens, nachts nicht später als um halb zwölf nachhause zu kommen, um unsere Mitmenschen nicht im Schlaf zu stören. Wir wurden noch um einiges andere gebeten. Und es war nicht zum aushalten.
Ständig gereizt und ausserstande, überhaupt noch was vernünftiges zu denken, gerieten wir in einen Zustand von Verlotterung. Wir lasen nur mehr Detektivromane, spielten Karten, schwänzten, so oft es anging, die kostbaren Mahlzeiten und knabberten Keks. Je mehr wir uns von der Baronin zurückzogen, desto mehr fühlten wir uns beobachtet. Und dazu kam, dass die rothaarige kleine Engländerin uns ständig in Atem hielt. War sie doch überzeugt, dass Raskolnikow aus seinen immer wilder werdenden Drohungen Ernst machen würde.
Wir verloren jede Distanz zu den kleinen Geschehnissen des Alltags, sie schienen riesengross geworden und wichtig, wichtig genug, um Mord und Totschlag zu verursachen. Weshalb wir uns auf stundenlange und verworrene Diskussionen einliessen, in denen wir Raskolnikow zu beweisen suchten, dass es weder in seinem eigenen noch im Interesse der Weltordnung unbedingt nötig sei, die Alte zu erschlagen.
Sonderbarerweise durfte er sich dabei mehr erlauben als wir anderen. Er ging mit schweren Schritten durch die Gänge, rauchte schamlos seinen groben Pfeifentabak und benützte das Badezimmer, so oft er sich die Hände waschen wollte. Die Baronin sagte nie etwas zu ihm. Sollte sie seine dunklen Absichten ahnen? Und er kam nur zufällig dazu, als sie dem hilflosen kleinen Franzosen mitten in der Marseillaise das Radio vor der Nase abdrehte.
Raskolnikow sprach kein Wort. Er nahm den alten Mann unter den Arm und zog ihn mit sich. Die beiden erschienen nicht zum Essen, ohne sich entschuldigt zu haben. Die Baronin redete die ganze Mahlzeit hindurch über den Wert von guten Manieren und gepflegten Lebensformen. Es sei doch merkwürdig, dass nicht einmal ein Milieu wie das ihre auf gewisse Leute abzufärben vermöge, wenn man sich ihrem seligen Vater gegenüber je so benommen hätte, er allerdings wäre nie auf den Einfall gekommen, Krethi und Plethi zu sich ins Haus zu nehmen, und einen Menschen wie diesen Franzosen hätte er in die Küche gesetzt, wenn nicht gleich in den Stall -
In diesem Augenblick liess Emilia einen Teller fallen. Aus Ungeschicklichkeit? Sie stand vor uns und liess den Teller einfach fallen. Die Baronin warf nur einen Blick auf sie. Und wir alle wussten: heute passiert etwas.
Natürlich gingen wir nachher in die Kaschemme, wo wir Raskolnikow mit dem Franzosen fanden, bei Wurst und Bier. Der Franzose hatte seine Brieftasche offen vor sich liegen, mit Geld, gar nicht so wenig Geld, und war strahlend vergnügt. Er hatte seine Uhr verkauft, ein Erbstück, ein kostbares und zärtlich geliebtes Erbstück sogar, und war entschlossen, auszuziehen. Morgen schon. Vielleicht auch noch heute.
Raskolnikow war dagegen. Aus Prinzip. Dieser Bestie auch noch was schenken! Erschlagen sollte man sie, erschlagen und berauben. Und damit waren wir wieder bei unserem ewigen Thema angelangt: was wollte sie von uns, warum, wozu das alles? Wozu holte sie sich, um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen, Krethi und Plethi in ihr fürstliches Haus?
Wir waren mitten in der Debatte und der deutsche Doktor fabulierte von seiner Geheimpolizei, als wir plötzlich stockten. Hinter den Rücken der Chauffeure erschien ein Gesicht, bleich und starr - war es möglich, war sie ausgeschickt worden, um uns zu holen, oder - Aber auf einmal jubelten wir alle ihr zu und Emilia lächelte, es war kaum zu glauben, dieser alte verbissene Totenkopf lächelte, worauf auch die Chauffeure ihr zuwinkten, als wäre sie ein reizendes junges Mädchen. Emilia wurde empfangen und begrüsst, und damit war der Aufstand der Sklaven eingeleitet.
Denn zu Sklaven waren wir geworden, sämtliche Eigenschaften dieser jämmerlichen Menschenkategorie hatten sich in uns entwickelt, wir waren boshaft und tückisch, schadenfroh, gehässig und feig. Wir trauten uns gar nicht mehr nachhause, wir hielten auch Raskolnikow zurück, der ab und zu erklärte, jetzt eben sei der rechte Augenblick für ihn gekommen. Als die Kaschemme geschlossen wurde, zogen wir durch die Stadt, es war eine milde Nacht, die Strassenlampen schwebten gleich überflüssigen Atrappen in dem apfelgrünen nordischen Himmel, auf den Bänken kauerten Liebespaare, wir vertrieben uns die Zeit in einem Wartesaal und plötzlich waren wir so hoffnungslos übernächtig wie Kinder auf einer Reise.
Als wir betäubt von einer Art Katzenjammer über die Treppen unseres vornehmen Hauses schlichen, waren wir alle nicht viel anders als Raskolnikow. Die Baronin sollte es nur wagen, uns mit einem Wort des Vorwurfs zu begegnen, sie sollte es wagen, uns überhaupt um diese Stunde zu begegnen. Wir stockten vor der Tür.
Und dann sass die Baronin in der Hall. Neben ihr in den hohen Leuchtern brannten zwei Kerzenstümpfchen, während eine weisse Sonne durch die Gardinen brach. Sie starrte vor sich hin mit einem Blick, so tot, so ausdruckslos, dass wir nicht wussten, ob sie wirklich lebte. Und schon wollten wir den kleinen Franzosen zurückhalten, als er mit vorsichtigen Schritten auf sie zutrat.
- Madame sollten schlafen gehen, sagte er.
Seine Stimme klang voll Besorgnis. Ein Zucken überlief den bleichen schweren Körper der Baronin und in diesem Augenblick verstanden wir, weshalb, warum, wieso sie ihr groteskes Spiel mit uns trieb. Denn vor uns sass eine riesige Urmutter der Vorzeit, verlassen von ihren Kindern, von ihrem Hausstand und von ihrem Clan, den wir ihr zu bedeuten hatten. Neben den beiden flackernden Kerzenstümpfchen sass sie in all der Pracht ihres Reichtums, elend und arm und voll Grauen vor der eigenen Einsamkeit.
Wir gingen auf unsere Zimmer, während Emilia sich um die Herrin bemühte.
Der Franzose zog nicht aus, obwohl er seine Uhr verkauft hatte, und in der nächsten Zeit lebten wir sehr still und unbehelligt, nachdem wir die Baronin dazu gebracht hatten, Raskolnikow aus seinem Vertrag zu entlassen. Er war zwar immer noch der Meinung, dass man sie erschlagen sollte, dieses feudale Gespenst einer abgestorbenen Vergangenheit. Doch kam er bei den Besuchen, die er unserer rothaarigen Engländerin gerne machte, kaum dazu. Die Pension wurde langweilig, jeder von den Gästen hatte viel versäumte Arbeit nachzuholen, und als unsere drei Monate endlich vorbei waren, erfuhren wir, dass die Baronin die Absicht hatte, sich auf ihr Gut zurückzuziehen.
Maria Lazar
Die österreichisch-jüdische Autorin (1895-1948) gehört zu jenen zu Unrecht vergessenen und vernachlässigten Autorinnen der deutschsprachigen Literatur, die wir im Rahmen unserer Reihe „Wiederentdeckungen“ im Burgtheater-Spielplan präsentieren. Eine Dramatisierung ihres Romans „Die Eingeborenen von Maria Blut“ kommt am 20. Jänner 2023 zur Premiere im Akademietheater. Regie führt Lucia Bihler. Alle Wiederentdeckungen: burgtheater.at/wiederentdeckungen
Mehr Infos zu den Wiederentdeckungen des DVB Verlags erhalten Sie unter: www.dvb-verlag.at