So etwas wie Schweigen gibt es nicht
Über die generationsübergreifende Weitergabe von Trauma. Von Judith L. Alpert, aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Andreas F. Hofbauer.
Ich wusste immer, dass meiner Mutter etwas Schreckliches zugestoßen war. Sie fürchtete sich vor allem. Sie fürchtete sich vor Hunden. Sie fürchtete sich, allein zu sein. Selbst wenn wir schliefen, musste nachts das Licht an bleiben. Lauernde Unbekannte mussten entdeckt oder verscheucht werden. Sie fürchtete sich vor Männern, die sie nicht kannte. Kam eine Lieferung, sagte sie zu mir, ich solle mich, bis er wieder weg war, unter dem Bett verstecken. Und wenn sie die Tür für die unbekannten Männer öffnete, die uns Lebensmittel zustellten, verbarg sie ein Messer in ihrer Tasche – „sicher ist sicher“. Es gab kaum etwas, vor dem sie sich nicht fürchtete, und nur wenig Bösartigkeiten, für die sie nicht gewappnet gewesen wäre.
Vor ihrer Heirat lebte meine Mutter mit meiner Großmutter, einer Tante und einem Onkel, der ein Kind hatte, zusammen. Mir wurde erzählt, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der meine Mutter an Familiensonntagen teilnahm: Um zehn Uhr vormittags deckten alle, die mit Oma unter einem Dach lebten, gemeinsam in der Diele von Omas Wohnung den Tisch, und nacheinander trafen alle anderen Familienmitglieder ein. Jede*r brachte etwas zum Essen mit.
Obwohl sie es mir nicht mit Worten sagte, war meine Mutter nicht zum Verstummen gebracht worden.
Nach dem Essen fing das Tagwerk an. Das Programm war stets dasselbe. Alle Probleme, die sich in der vergangenen Woche jeder einzelnen Person gestellt hatten, wurden vorgetragen, besprochen, anschließend folgte ein Lösungsvorschlag oder beruhigende Worte. Alle redeten. Alle halfen. Keine Entscheidung wurde getroffen und nichts von Wert angeschafft, ohne dass dies zuvor von diesem mächtigen Rat kritisch beurteilt worden war. Das war ein starker Familienverbund und alle seine Mitglieder waren in die Leben der jeweils anderen einbezogen. Mir wurde erzählt, dass meine Mutter an diesen Familienratsbesprechungen teilgenommen hatte. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hätte sie jedoch damit aufgehört. Das geschah etwa zu jener Zeit, als sie anfing sich vor allem zu fürchten. Die Leute ließen meine Mutter in ihrer Stille. Vielleicht nahmen sie den Wandel, ihre ungewöhnliche Schweigsamkeit, gar nicht wahr. Vielleicht wussten sie auch nicht, wie sie mit dieser plötzlichen Veränderung umgehen sollten.
Vielleicht wussten sie es und wollten es gleichzeitig gar nicht wissen. Erst später fand ich heraus, wie viel generationsübergreifende Geschichte im Schweigen meiner Mutter kondensierte und in das Unvermögen meiner Familie, Fragen zu stellen, Stellung zu beziehen oder Nachforschungen anzustellen, einsickerte. Dieses Schweigen verwies zurück auf das Trauma meiner Mutter sowie auf die Geschichte meiner Großmutter und das, was Oma während der Pogrome erlebt hatte, und worüber ebenfalls niemand sprach.
Vielleicht hat die Familie meine Mutter in ihre Ehe gedrängt, weil sie dachten, Heirat sei die Lösung. Sie war 28. Sie wurde mit einem Mann verkuppelt. Alle am Familientisch waren überzeugt, er sei ein guter Fang. Süß war er und besonnen; er wurde als jemand beschrieben, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte – kurzum einer, dem man am liebsten in die Wangen kneifen würde. In meiner Großfamilie hatte Ehe nichts mit Liebe zu tun. Alle waren sich einig, dass er ausgezeichnet zu meiner Mutter passe. Er war nicht unheimlich. Er würde geduldig sein. Er würde ein guter Versorger sein. Und überdies war es ohnehin an der Zeit, dass meine Mutter auf eigenen Beinen stünde. Darauf einigte sich das Familiengremium an diesem Sonntagnachmittag. Mit einer Sache jedoch hatte das Familientribunal nicht gerechnet: Mutter war nachts nicht gerne allein zuhause und dieser Mann würde in vielen Nächten arbeiten müssen. Die Lösung: Großmutter zog zu ihnen.
Irgendwie ging das Leben weiter. Ich wurde geboren. Dann fing ich „es“ mir ein. Es war, als ob ihr emotionaler Zustand in mich eindrang. „Es“, die Angst, wurde auf mich übertragen. In fünf Jahren gelang es mir, einen ganzen Berg Furcht aufzutürmen. Vieles, was meiner Mutter Furcht einflößte, begann auch mich zu ängstigen. Ich fürchtete mich vor Hunden. Ich fürchtete mich vor Männern und manchmal sogar vor meinem Vater. Ich weinte viel. Meiner Mutter gelang es, etwas für mich zu tun, das die ganzen vernünftigen Familienmitglieder, die kluge Entscheidungen trafen, niemals für sie getan hatten: Sie schickte mich zur Therapie und suchte sich selbst eine Therapeutin. Meine Therapeutin und ich mussten uns an einem unsichtbaren Krieg beteiligen, der mit dem Trauma meiner Mutter und mit dem meiner Großmutter verknüpft schien. In meinem inneren Haus spukte es und meine Ängste als Fünfjährige hingen mit den ungelösten emotionalen Erschütterungen und Verlusten der beiden zusammen. Ich erinnere mich an meine Therapeutin. Sie war jung, hübsch und gelassen, und sie machte einen unerschrockenen Eindruck. Wir trafen einander in einem Raum voller bunter Spielsachen. Dort befand sich ein halbdurchlässiger Spiegel, und meine Mutter erzählte mir, dass sie und ihre Therapeutin mich manchmal beim Spielen beobachteten. Während es zahlreiche Spieleangebote gab, widmete ich mich jedes Mal nur einem von zweien. Ich hämmerte dicke Holzdübel in eine Platte mit runden Öffnungen. Immer und immer wieder. Worum ging es in meinem Spiel? Verkündete ich damit, dass ich um ein Geheimnis wusste, bei dem es um das verbotene Eindringen von fetten, runden Dingern ging, die man in ein Loch presste? Wiederholte ich dieses Hämmern im Bemühen, ein untersagtes Eindringen, eine Verletzung, die niemals hätte passieren dürfen, unter Kontrolle zu bringen? Das frage ich mich jetzt. Damals spielte ich bloß. Ich spielte auch mit einem zweistöckigen Puppenhaus, das an einer Seite offen war. In ihm bewegte ich die Mutter hin und her. Ich platzierte sie an verschiedenen Orten, solange, bis sie in die richtige Lage gerückt war. Und ich stellte die Einrichtungsgegenstände des Puppenhauses um. Ich änderte, welche Zimmer sich nahe bei der Eingangstür befanden. Ich machte das Haus sicher.
Wenn Schweigen und Mangel herrschen, wiederholt sich die Vergangenheit in der Gegenwart.
Und dann machte ich es noch sicherer. Da konnte keiner mehr rein, der nicht hineingehörte. Dafür habe ich gesorgt.
Was war meiner Mutter widerfahren? Was hatte sie so ängstlich werden lassen?
Kurz bevor sie starb, fragte sie mich nach etwas Schokolade. Ich hatte ein Stück in meiner Handtasche, das in der vorangegangenen Nacht auf dem Kopfkissen meines Hotelbetts gelegen hatte. Ich ließ es in meiner Hand schmelzen, griff dann zu einem Wattestäbchen und tauchte dieses in die Schokolade. Das mit Schokolade überzogene Wattestäbchen führte ich an ihren Mund, die erste Nahrung, die sie seit fünf Tagen zu sich genommen hatte. Ihre Augen öffneten sich weit. Sie sagte, dass es köstlich schmecke. Ich bot mehr an. Sie sagte, sie sei voll. Sie lächelte, und dann starb sie. Doch kurz bevor sie um die Schokolade bat, passierte etwas. Ehe ich ihr die begehrte Süßigkeit gab, gab sie mir etwas. Sie gab mir Struktur und Repräsentation – sie teilte mir in einem kurzen Satz ihr Trauma mit: „Mit 15 hat mich ein Kleiderverkäufer vergewaltigt.“ Diese Geschichte von ihr zu hören, war wie ein Geschenk.
Als Kind hatte ich die intergenerationale Kraft ihres Traumas gespürt. Die Übertragung ihres nicht aufgelösten Traumas war verschwiegen, die Fracht toxisch und wäre es nicht behandelt worden, dann hätte es sich wohl in kommende Generationen weitergereicht. Das geschah, weil meine Mutter das Unaussprechliche und Unvorstellbare zwar nicht artikulieren konnte, aber es dennoch offenbarte. So etwas wie Schweigen gibt es nicht. Die Weitergabe von einer Generation an die nächsten kann filigran oder überdeutlich sein. Ist diese Weitergabe aber erst einmal erfolgt, so kann sie Lebensthemen formieren und den Kern der eigenen Identität bilden.
Es scheint, als können sich aus Ereignissen unbewusste Phantasien entwickeln, die vom Kind selbst niemals als Wirklichkeit erfahren wurden. Das Kind braucht die Erfahrung des Traumas der Eltern nicht zu machen, um sich vorstellen zu können, auf welche Weise diese Ereignisse eintraten und um aus Vorstellungsbildern den Inhalt einer unbewussten Phantasie abzuleiten. Das Kind integriert, was sich in der Gegenwart abspielt, in Wahrheit aber der Vergangenheit angehört. Das Kind beobachtet die Trigger, denen die Mutter ausgesetzt ist, und die Auswirkungen, die diese auf sie haben. Das Kind muss womöglich nur die Erfahrung des Mangels machen, die das Trauma im Elternteil geschaffen hat, damit es sich einstmals begangener Untaten bewusst wird. Trauer und unerträglicher Schmerz lassen sich nicht verbergen, weder vor dem Opfer noch vor den nachfolgenden Generationen. Wenn Schweigen und Mangel herrschen, wiederholt sich die Vergangenheit in der Gegenwart, und das Opfer wie auch nachfolgende Generationen werden belastet.
Obwohl sie es mir nicht mit Worten sagte, war meine Mutter nicht zum Verstummen gebracht worden. Ihr Verhalten sprach zu mir. Sie reagierte auf Dinge, die ich nicht sehen oder verstehen konnte. Mit Hilfe dissoziativer Mechanismen bewältigte sie, wovon sie überschwemmt wurde. Das sah ich und konnte nicht begreifen, was ich sah. Ich wollte wissen. Sie wollte nicht mehr wissen. Sie sprach, aber nicht in der Sprache bewusst zusammenhängender Rede. Schmerzhafte Momente ihrer Vergangenheit bevölkerten ihre Gegenwart. Ihr Geist war nicht der ihre, jedenfalls nicht ganz. Natürlich wusste ich es. Und natürlich wusste auch sie es. Ich habe den Eindruck, dass sie stets eine bewusste Erinnerung pflegte und dass sie die Dissoziation dazu nutzte, mit Affektüberflutung und überwältigenden Flashbacks umzugehen, die sie durchlebte. Als sie bemerkte, wie ihre eigenen Ängste sich in mir auszuleben begannen, handelte sie. Sie schickte uns beide in Therapie. Sie unterbrach die generationsübergreifende Weitergabe des Traumas.
Der Beitrag ist im englischsprachigen Original unter dem Titel “Enduring Mothers, Enduring Knowledge. On Rape and History" in der Fachzeitschrift „Contemporary Psychoanalysis“ erschienen (Taylor & Francis 2015). Abdruck der gekürzten Version mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Judith L. Alpert
ist Professorin für Psychotherapie und Psychoanalyse an der New York University sowie ehemalige Co-Direktorin des dortigen Programms für transdisziplinäre Trauma- und Gewaltstudien. Sie unterhält zudem eine Praxis für psychologische Traumatherapie in New York.