Himmelserscheinungen, Höllenreflexe

Fundstück
von Thomas Bernhard

Dass Thomas Bernhards Talent als Komödienautor untrennbar mit seinem Gespür für Wahn und Wirrnis zusammenhängt, ist in AM ZIEL in der Regie von Matthias Rippert im Kasino am Schwarzenbergplatz zu erleben.

Die Erzählung „Amras" (1964), die wir hier als Fundstück präsentieren, hat Bernhard wiederholt als einen seiner besten Texte bezeichnet. Sie erzählt von zwei Brüdern, die nach dem Selbstmord der Eltern von der Außenwelt isoliert in einem Turm miteinander leben und langsam dem Wahnsinn anheimfallen.

Reflektierendes Kleid auf schwarzem Grund
© Anna Breit
In dieser Rubrik stellen wir literarische Fundstücke vor – aus der Feder von Schriftsteller*innen, die am Burgtheater aufgeführt werden.

Gründlich, so, daß es uns weitergebracht hätte, getrauten wir uns über unser Schicksal nicht nachzudenken, geschweige denn, uns die Ursachen klarzumachen ... Wir vermieden die uns verletzenden Wörter, Begriffe ... doch es gelang uns nicht, uns auch nur zeitweilig schmerzfrei zu machen, uns war immer wieder der unerträglichste aller Schmerzen verursacht: die Erinnerung an die Eltern ... Walter ging oft zum Fenster und schaute hinaus und sagte: „Es ist nichts!“, obwohl für ihn doch draußen, unter dem Turmfenster, etwas gewesen war, ein Geräusch, eine Stimme ... eine Stimme hatte ihn ja zum Fenster gezogen ... die Stimme unserer Mutter, die Schritte unserer Eltern im Garten, zu jeder Tageszeit, oft in der Nacht, immer wieder ... jedesmal aber das gleiche „Es ist nichts...“, es wiederholte sich täglich in immer kürzerem Abstand, daß er vom Strohsack aufsprang und an das Fenster stürzte ... dann sein Schweigen wie in fürchterlicher Ergebenheit ...Unsere Kindheit, die wohl am innigsten mit unseren Eltern zusammenhing, gerade weil wir von ihnen ja niemals schockiert worden, nur immer uns selbst überlassen gewesen waren, nicht ohne ihre Erziehung, eine sehr freie und dadurch strenge Erziehung ... war uns in diesen Wochen so gegenwärtig wie niemals vorher ... selbst verrückt, war sie unserer Verrücktheit ein Trost ... Oft saßen wir uns, von uns abgewandt, in unserer katastrophalen Körper- und Geistesverfassung, nach langen Perioden der Erschütterung unserer Gehirne, gegenüber, als plötzlich mein Walter zum Fenster sprang, von einem Rufen erschrocken ... das, von einem bestimmten Zeitpunkt an auch ich hörte ... aber im Garten war niemals auch nur eine Andeutung eines uns rufenden Menschen ... wir hörten es aber viele Wochen lang immer gleichzeitig rufen ... ganz deutlich die Rufstimmen unserer Eltern. 

 

In Meeren und Wüsten zugleich die Erschütterung der Atmosphären

Durch die Böden und Mauern waren wir auf das engste mit der gesamten Natur, und zwar doppelt verstandesmäßig mit der gesamten Natur verbunden, nicht nur durch die Luft ... wir horchten stundenlang an den entferntesten Ufern ... wir hörten das Gemisch aller möglichen Sprachen, das Gemisch und Gedröhn aller Laute erfüllte unsere Kopfhöhlen, die zeitweise ganz ohne Fleisch und Blut waren ... in einem bestimmten Verhältnis unserer Schläfenknochen zum Erdmittelpunkt, den wir uns für uns und für alles bestimmen konnten, waren wir eingeweiht in die Schöpfungsvorgänge, in die Willensstärke der ganzen Materie ... Wir waren uns dann unser selbst als zweier doppelter Spiegelbilder des Universums bewußt ... Himmelserscheinungen, Höllenreflexe ... In Meeren und Wüsten zugleich die Erschütterung der Atmosphären ... oft waren wir wirklich so hoch in der Sternbildanschauung, daß uns fröstelte, selbst Wasser, Gestein ... im Vorteil der Sterblichkeit, wenn wir horchten und dadurch begriffen ... wir schauten, nicht mehr auf Vermutungen angewiesen, auf die Berechnungen klaren Menschenverstandes ... in wie feiner, nicht kopfzerbrechender Schweigsamkeit konnten wir uns in solchen Augenblicken verständigen, uns erneuern ... Wir hüteten uns davor, das Gesehene anzusprechen ... Das Phantastische enthüllte uns alles sekundenlang nur, um es wieder für sich zu verfinstern ... die höchsten Augenblicke waren naturgemäß immer die kürzesten, überhaupt allerkürzesten Augenblicke ... Unsere Schläfen an Böden und Mauern gedrückt, beobachteten wir die Drehung von Millionen von Lichtjahren, weit entfernt ... konische Kreisel, kugelförmige Himmelskörper, die präzise Gelenkigkeit der Mathematik ... Wir staunten darüber, daß wir noch lebten ... 


 

Portraitfoto Thomas Bernhard
Thomas Bernhard

Thomas Bernhard

1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern
und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. 


 

Zum Stück
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Am Ziel

Akademietheater
Thomas Bernhard
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Himmelserscheinungen, Höllenreflexe

Fundstück
Dass Thomas Bernhards Talent als Komödienautor untrennbar mit seinem Gespür für Wahn und Wirrnis zusammenhängt, ist in AM ZIEL im Kasino zu erleben. Unser Fundstück „Amras" hat er wiederholt als einen seiner besten Texte bezeichnet.

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Brief aus ...
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Am 3. Mai 2022 besuchte die Wiener Rapperin und Dichterin Yasmo eine Vorstellung von CYRANO DE BERGERAC – in der Spoken Word-Neufassung von Martin Crimp – im Burgtheater. Wir haben sie gebeten, ihre Eindrücke mit uns zu teilen.

Schreibweisen #5: Man braucht kein Unbewusstes mehr, wenn man einen solchen Nachbarn hat

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Verzerrungen

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Playlist von Alva Noto

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Wir baten Michaela Melián, sich künstlerisch mit der Inszenierung von Marieluise Fleißers "Ingolstädter Stücken" auseinanderzusetzten. Ein Gespräch mit der Künstlerin.

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