Nachts wird das Herz wach
Die Regisseurin Antje Schupp inszeniert NACHTSCHATTENGEWÄCHSE von Johannes Hoffmann mit Schauspielstudierenden des Max Reinhardt Seminars. Das Stück für Jugendliche ab 13 Jahren wurde 2021 mit dem Retzhofer Dramapreis für junges Publikum ausgezeichnet und feiert am 24. September 2022 im Vestibül Premiere. Hier verrät die Regisseurin, was sie an dem Stoff begeistert.
Das Stück NACHTSCHATTENGEWÄCHSE fackelt nicht lange. Schon nach wenigen Zeilen kommt der erste verbale Schlag in die Magengrube, ausgelöst durch einen arglosen Satz. Ivette sagt: „Schau Joanna, wie viel ich gewachsen bin seit letztem Sommer.“ Und Joanna antwortet: „Nur das grässlichste kindischte Kind Ivette / Macht Markierungen am Türstock / Und misst sich ab.“ Als Erwachsene lausche ich dem mit einer Mischung aus Verwunde- rung und Traurigkeit. Ich will keinen Hehl daraus machen: Eine Komödie ist NACHTSCHATTENGEWÄCHSE nicht gerade. Aber auch keine Tragödie. Das Stück ist vielmehr der Realität näher, als man sich eingestehen möchte. Es entwickelt eine Fragilität, die anziehend ist. Die Metapher, die Johannes Hoffman dafür findet, ist „eine Welt aus Porzellan.“
Joanna, Moritz, Jonas, Ivette leben in einer Art Internat, in das sie vermutlich von ihren Eltern geschickt wurden. Ihre Kindheit ist nicht allzu lange her. Und das Erwachsenenalter eher ein fernes Ideal, auf das sie sich hier vorbereiten sollen. Herumstreunen, gechillt einen kiffen und sich nicht um die Zukunft sorgen? Nicht hier. In diesem Internat herrscht eiserner Drill – und das Auffällige ist, dass überhaupt keine Erwachsenen dazu notwendig sind. Das Erziehen machen die vier schon ganz allein.
Die Erwachsenen sind nur als Leerstelle vorhanden, Erinnerungen aus der Vergangenheit
Die Erwachsenen sind nur als Leerstelle vorhanden, Erinnerungen aus der Vergangenheit, die herumgeistern und wie ein Spuk immer dann auftauchen, wenn man sie nicht gebrauchen kann. Das Regelsystem wurde vermutlich von ihnen ersonnen. Es erinnert an das neoliberale Versprechen, dass – wenn man sich nur genug anstrengt – einem die ganze Welt offensteht. Schafft man es nicht, kann der Fehler nur bei einem selbst liegen. So machen sie sich nach allen Regeln der Kunst gegenseitig fertig, in der Überzeugung, dass man sich nur so für die „echte Welt da draußen“ vorbereitet. Absolut verboten: sich an früher erinnern.
Nachts aber wird das Herz wach. Die Gefühle, die die Jugendlichen tagsüber unterdrücken, bahnen sich ihren Weg zurück ins Bewusstsein. Dann kommen Träume, sie haben Heimweh oder Fluchtimpulse. Es gibt heimliche Treffen auf dem Dach. Den ersten Kuss. Total verboten. Total aufregend. Sie spüren, dass dieser Drill nicht alles im Leben sein kann. Und als dann auch noch ein neuer Jugendlicher in die Runde kommt, bricht all das auf, das vorher schon gebrodelt hat: Zweifel, Sehnsüchte, Nase voll. Henrique ist anders, unabhängiger, hat keinen Bock auf Drill – und wagt das Ungewisse. Wie es da draußen wohl wirklich aussieht? Ist da Hoffnung, irgendwo?
Antje Schupp
ist Regisseurin, Performerin und Autorin. Sie arbeitet spartenübergreifend in Theater, Musiktheater, Performance und Tanz, regelmäßig auch mit nicht-professionellen Darsteller*innen. Sie inszenierte u. a. am Theater Basel, dem Schauspielhaus Zürich, dem Luzerner Theater, dem Theater Neumarkt, dem Staatstheater Augsburg oder der Kaserne Basel und wurde mit ihren Arbeiten zu zahlreichen Festivals eingeladen.