Fragebogen #7: DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT
Am 8. März 2023 besuchte die Künstlerin und Aktivistin Anahita Neghabat eine Vorstellung von DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT — nach Maria Lazars hellsichtigem Roman über den aufkommenden Faschismus und dessen Auswirkungen auf eine österreichische Dorfgemeinde – im Akademietheater. Wir haben sie gebeten, ihre Eindrücke mit uns zu teilen.
„Ich glaube an solidarische Bündnisse und ein starkes Herz.“
WAS HABEN SIE ALS LETZTES GETAN, BEVOR SIE SICH AUF DEN WEG INS THEATER MACHTEN?
Mit meinem Partner einen Tee getrunken und mich mit ihm über innerfeministische Solidarität am 8. März ausgetauscht.
WAS HATTEN SIE AN? SIND SIE AUFGEFALLEN? IST IHNEN JEMAND INTERESSANTES IM FOYER AUFGEFALLEN?
Bis auf eine rote Tasche aus Turkmen-Teppich war ich ganz in Schwarz mit einer schwarzen Bluse, Bomberjacke, Jeans und schwarzen Stiefeln. Im Foyer negativ aufgefallen ist mir leider eine Dame, die laut und abschätzig mit einem Garderobenmitarbeiter sprach und alle Umstehenden wissen ließ, dass sie jetzt z’fleiß ihre 40 Cent Restgeld zurückverlange. Vollkommen unabhängig von der Performance, für die wir gekommen waren, wurde ich direkt konfrontiert mit dem Theaterbesuch als bürgerliche Performance der Selbsterhöhung.
IST IHNEN EIN BILD AUS DER INSZENIERUNG BESONDERS IM GEDÄCHTNIS GEBLIEBEN?
Beeindruckend war das erste face-to-face mit der übergroßen Mutter Maria ganz zu Beginn, als der Vorhang sich öffnete. Viele im Publikum reagierten auch hörbar mit verlegenem Lachen, Flüstern oder scharfem Einatmen. Ebenfalls beeindruckt hat mich, als die Marienfigur von der Bühne getragen und dadurch so gänzlich entzaubert wurde. Plötzlich war sie gar nicht mehr so gewaltig; die flache Rückseite wurde sichtbar, Kabel, etc.
KÖNNEN SIE SICH AN IHREN ERSTEN GEDANKEN, IHR ERSTES GEFÜHL NACH VORSTELLUNGSENDE ERINNERN?
Im Stück ging immer wieder das Licht aus, also fragte ich mich unmittelbar nach Vorstellungsende, als das Licht erneut ausging: „Wieso wissen die alle, dass es jetzt wirklich aus ist und sie klatschen dürfen?“ Ihren Applaus unterbrachen die Schauspieler*innen, um das Publikum um Spenden für die Betroffenen des Erdbebens in der Türkei und Syrien zu bitten – das hat mich gefreut und berührt.
KENNEN SIE DAS DORFLEBEN?
Nur als – mal willkommene, mal unwillkommene – Gästin.
DAS LEBEN IN EINER EINGESCHWORENEN GEMEINSCHAFT?
Nicht wirklich, weil ich es meide.
WAS HILFT GEGEN MITLÄUFER*INNENTUM?
Ich glaube an solidarische Bündnisse und ein starkes Herz.
GLAUBEN SIE, DASS SICH GESCHICHTLICHE EREIGNISSE WIEDERHOLEN?
Vieles wiederholt sich nicht einfach, sondern ist nie wirklich zu Ende gegangen. Es transformiert und übersetzt, wandelt und adaptiert sich. Es ist wichtig, sich diese Transformationsprozesse genau anzuschauen, denn sonst wird Gewalt verübt und unsichtbar gemacht, die wir als solche nur (an)erkennen würden, würde sie sich 1:1 wiederholen.
HATTE DIE INSZENIERUNG, DIE SIE GESEHEN HABEN, FÜR SIE EINE ANBINDUNG AN DIE WIRKLICHKEIT UND DIE GEGENWART?
Ja, natürlich. Viele Parallelen drängen sich auf. Inflation, Arbeitslosigkeit, Zukunftsängste und ein Gefühl der Machtlosigkeit bei vielen. Außerdem einfache und gewaltvolle Narrative als Antworten und selbsterklärte starke Männer, die Erlösung versprechen.
Dann noch antisemitische und rassistische Kontinuitäten, die eben diese Erlösernarrative prägen. Nicht unbekannt war mir auch der Egoismus, die Kurzsichtigkeit und die latente Grausamkeit, die viele der Akteur*innen zeigten. Die Inszenierung selbst hat es durch die Soundscapes und visuell ansprechenden Latex-Kostüme zudem leicht gemacht, die Handlung in eine andere Zeit zu übersetzen.
ANGENOMMEN, SIE KÖNNTEN SICH EINE*N GESPRÄCHSPARTNER*IN WÜNSCHEN, UM ÜBER DEN ABEND ZU SPRECHEN, WER WÄRE DAS? HÄTTEN SIE SCHON EINE ERSTE FRAGE AN DIESE PERSON?
Mit dem Schriftsteller und Roma-Aktivisten Samuel Mago, darüber, wie die Mitläufer*innen in der Inszenierung als nicht-menschlich und puppenartig dargestellt werden und die Implikationen dessen für Erinnerungskultur.
Anahita Neghabat
ist Sozialanthropologin, Künstlerin und Aktivistin aus Wien. Ihre Arbeit beschäftigt sich mit kritischer Bildung, intersektionalem Feminismus und (antimuslimischem) Rassismus. Seit 2019 kommentiert sie als @ibiza_ austrian_memes auf Instagram die österreichische Innenpolitik. Für ihr politisches Engagement wurde sie 2022 als Young European Of The Year ausgezeichnet.
Zum Stück: DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT
Das idyllische Dorf Maria Blut mit seiner Wallfahrtskapelle liegt am Land, ein paar Zugstunden vor Wien. Die 1930er Jahre sind angebrochen, Dollfuß ist Bundeskanzler, und die Eingeborenen des „österreichischen Lourdes“ sind in Unruhe. Die vor dem Dorf gelegene Konservenfabrik hat schließen müssen. Der Unternehmer Schellbach versucht nun, die besorgte Bevölkerung dazu zu bewegen, in sein neues Produkt, die Raumkraft, zu investieren. Viele geben ihr letztes Erspartes dafür her. Als sich Schellbach jedoch mitten während des Volksfestes erschießt und seine Unternehmung scheitert, entwickelt sich in Maria Blut sofort eine ungeheure Dynamik: Die angeblich Schuldigen sind schnell ausgemacht – und für die wird es jetzt brandgefährlich.