Editorial #6
von Tobias Herzberg
Wenn Aufklärung Wahrheitssuche bedeutet, haben Aufklärung und Theater schon immer ein kompliziertes Verhältnis. Denn im Theater wird, wenn überhaupt, Wahrheit nur in der Verstellung sichtbar. Meistens orientiert sich das Theater eher an der Vorstellung des Unvorstellbaren als an der Darstellung des Tatsächlichen. Das Publikum weiß das natürlich und kommt trotzdem – oder genau deshalb: Um sich absichtlich etwas vormachen zu lassen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass auf der Bühne die Welt gespiegelt wird. Aber wenn, dann stets verzerrt, manchmal überkopf, und oft die schlimmstmöglichen Wendungen nehmend. Manche würden sagen, das Ziel solcher Verstellungskunst liege darin, aus der fiktiven Katastrophe für die Realität zu lernen und die Menschen dadurch besser zu machen. Doch auf diese Weise dauerhaft in den Dienst des Fortschritts oder jeder noch so guten Sache gestellt zu werden – dagegen hat sich das Theater seit jeher gewehrt.
Anti-Aufklärung und Aufklärung gingen schon immer Hand in Hand.
So wenig es den Mächtigen aller Zeiten je gelang, das Theater für sich zu vereinnahmen, so wenig vermochte es die Aufklärung. Denn indem das Theaterspiel bestenfalls über Umwege von der Wahrheit erzählt, bedient es eine gleichzeitige Lust an der Lüge, die es erst erzeugt. Warum also ein Theatermagazin über die Aufklärung? Die Philosophin Susan Neiman sagt im Gespräch für dieses Heft: „Anti-Aufklärung und Aufklärung gingen schon immer Hand in Hand.“ Die Aufklärung hat erst die Voraussetzungen dafür gelegt, dass sie kritisiert werden kann. So erschafft die Aufklärung ihr Gegenteil. Und so ist das Theater, indem es durch die Lüge zur Wahrheit kommt und die Verstellung feiert, immer schon beides: Aufklärung und ihr Gegenteil in einem.
Wenn Aufklärung Wahrheitssuche bedeutet, liegt das aufklärerischste Moment am Theater vielleicht im inneren Widerstreit des Publikums zwischen der Freude am Betrogenwerden und dem Drang, zu erfahren, wie der Zauber funktioniert. Zur Wahrheitssuche gehören aber auch: Herrschaftskritik, Emanzipation, Traumabewältigung, die Auseinandersetzung mit Herkunft und Biografie – und nicht zuletzt der auswärtige Blick auf unseren Planeten. Als auf einen unter vielen.