Die Möglichkeit des Fortschritts

Interview
Tobias Herzberg

Tobias Herzberg im Gespräch mit der Philosophin Susan Neiman über Aufklärung, Kritik und ihre Hoffnung in Europa.
 

© Soukaina Joual

Tobias Herzberg: Vor wenigen Wochen wurde in Frankreich ein Lehrer auf grausame Weise von einem Glaubensfanatiker getötet. Gleichzeitig erleben wir Phänomene wie Corona-Leugnung und „Klima-Skeptizismus“ auf höchster politischer Ebene – also die Infragestellung von wissenschaftlichem Konsens. Wenn Wissen wie Meinung behandelt wird, und Glauben als Tatsache: Ist das Zeitalter der Vernunft passé?

Susan Neiman: Man kann sich fragen, ob es je ein Zeitalter der Vernunft gegeben hat. Von welcher Zeit könnte man sagen, alle Menschen hätten die Stimme der Vernunft vernommen und danach gehandelt? Es wäre absurd, so etwas zu behaupten, wenn man sich den Verlauf der Geschichte anschaut. Selbst unter Intellektuellen gab es kein Zeitalter der Vernunft in dem Sinne, dass die Vernunft als Maßstab von allen akzeptiert worden wäre. Anti-Aufklärung und Aufklärung gingen schon immer Hand in Hand: In dem Moment, in dem die Aufklärung am stärksten war, kam die Kritik der Aufklärung. Insofern ist die ganze poststrukturalistische Kritik an der Aufklärung gar nichts Neues. Neu ist aber doch etwas, was mich betrübt. Durch die neuen Medien ist die Menge bewusster Desinformation aus ganz verschiedenen Quellen größer denn je. Im 18. Jahrhundert konnte man annehmen: Wenn man Licht auf die Verhältnisse wirft, werden die Leute allmählich zur Vernunft kommen. Heute könnte man eher sagen, es gibt so viel Licht von so vielen Quellen, dass man geblendet wird – künstliches Licht, falsches Licht.

 

Es stellt sich die Frage: Wer wirft das Licht?

Eigentlich stellen sich zwei Fragen: Einerseits die nach der Lichtquelle, also den sozialen Medien, neuen Kommunikationskanälen – andererseits die Frage danach, wer diese Kanäle befüllt, also wer etwa Verschwörungstheorien verbreitet oder den Konsens der Wissenschaft infrage stellt. Wer wirft die Blendgranaten? Das reicht von Putin bis Trump und seinen Anhängern bis QAnon, wobei diese drei oft die gleichen Interessen zu haben scheinen. Und was daraus gestiftet wird, ist oft Chaos um des Chaos willen.

In dem Moment, in dem die Aufklärung am stärksten war, kam die Kritik der Aufklärung.
 

In der Zauberflöte gibt es eine interessante Verknüpfung von Aufklärung und Geheimhaltungspflicht. Wer, wie Tamino, in den Geheimbund der Wissenden aufgenommen werden will, muss Verschwiegenheit beweisen und sich noch anderen Prüfungen unterziehen. Die Annahme, es gebe eigentlich eine Welt hinter der Welt, eine Macht hinter der Macht, findet sich doch auch in heutigen Verschwörungstheorien.

Das ist nicht die Parallele, die ich ziehen würde. Historisch sehe ich auch keinen Gegensatz zwischen Aufklärung und Geheimhaltung, sondern eine Notwendigkeit, wenn man sich überlegt, wie stark die Aufklärung von den Herrschenden angefeindet wurde. Fast alle aufklärerischen Schriften wurden entweder anonym oder unter Pseudonym veröffentlicht, die Bücher wurden verbrannt, die Verfasser ins Exil getrieben. Einige Texte wurden veröffentlicht, aber dann sofort verboten. Das heißt, es gab reale Gefahren für diejenigen, die die Kirche und die Adelsherrschaft infrage stellten. Insofern ist diese Idee, dass sich Tamino vielen Prüfungen unterziehen muss, klar. Man musste ziemlich stark sein, um diesen Anfeindungen standzuhalten. Aber die Annahme der Aufklärung war: Wenn eine zunächst kleine Gruppe von Menschen tatsächlich aufgeklärt würde, dass sich dann durch die schrittweise Weitergabe dieses Wissens Weisheit verbreiten würde. Das hat nichts mit Verschwörungstheorien zu tun, sondern das ist Kants Bildungstheorie.

 

Inwiefern kann uns Kant als Klassiker der Aufklärung heute hilfreich sein?

Vielleicht am wichtigsten: Ich sehe den Kern seiner Metaphysik in der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen – und in seiner Weigerung, das Sollen auf das Sein zu reduzieren. Das heißt, beide sind real. Beide gehören zur Wirklichkeit. Und das heißt, wir können mit Ideen von Gerechtigkeit, mit Ideen von Gleichheit tatsächlich auf das Sein einwirken. Es gibt die Möglichkeit des Fortschritts, die Möglichkeit, dass Menschen moralisch besser werden können. Leider wird diese Möglichkeit von einer heutigen, poststrukturalistisch geprägten Identitätspolitik in Teilen abgestritten.

 

Aber es sind doch gerade diese Stimmen, die eine Anwendung der Menschenrechte auf alle fordern; die auf die ungleiche Verteilung von materiellen und Bildungsressourcen aufmerksam machen und unter dem Stichwort ‚Privilegien‘ das Fortwirken kolonialer Strukturen in der Gegenwart anprangern.

Natürlich ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es Rassismus gibt, dass es noch immer fortbestehende Formen des Kolonialismus und des Sexismus gibt. Das ist absolut kompatibel mit der Aufklärung und wäre ohne sie gar nicht möglich. Darauf zu vergessen, dass in relativ kurzer Zeit die Sklaverei – wenigstens offiziell – abgeschafft wurde, ist aber kontraproduktiv. Ja, es gibt weiterhin Formen der Sklaverei, und darum müssen wir uns kümmern. Aber bis vor wirklich kurzer Zeit war die Sklaverei eine Selbstverständlichkeit! Wann konnten Frauen zum ersten Mal wählen? Vor hundert Jahren, in manchen Ländern erst viel später. Die Möglichkeit, Unternehmen auf Gleichbehandlung zu verklagen oder die Strafbarkeit sexueller Belästigung – das sind wichtige Schritte, die erreicht wurden. Oder dass Folter in ganz Europa ein erprobtes und nicht kritisiertes Mittel der Justiz gewesen ist – und heute geächtet! Nun gibt es noch immer Folter, das ist klar. Aber es ist ein Zeichen des Fortschritts, dass Regierungen versuchen, ihre Folterpraktiken zu verbergen, weil sie sich dafür schämen! Wir werden keine weiteren Fortschritte machen können, wenn wir nicht in der Lage sind zu erkennen, dass bereits Fortschritte gemacht worden sind. Und das ist es, was mich manchmal so wütend macht gegenüber einem Poststrukturalismus, der jede Hoffnung auf Verbesserung nimmt. Wenn jemand sagt, „Rassismus ist in der DNA der weißen Gesellschaft“, dann ist das ein essentialistisches Argument, das die Möglichkeit des Fortschritts negiert. Das suggeriert zum Beispiel Ta-Nehisi Coates, ein junger Meinungsführer der afroamerikanischen Linken, der von Toni Morrison zum Nachfolger James Baldwins ausgerufen wurde. Damit hat sie dem jungen Mann keinen Gefallen getan, fürchte ich.

Verheerend, dass Europa so unfähig ist, seine eigenen Ideale umzusetzen.
 

Und doch: Ist der Antrieb dieser Kritik nicht einer, der die Welt verändern will – im Sinne einer moralischen Verbesserung?

Ich kann nur hoffen, dass Sie recht haben! Jetzt vor kurzem, hat Coates gesagt, es sei für ihn ein Hoffnungsschimmer, dass sich bei einer „Black Lives Matter“-Demo mehr Weiße als Schwarze engagiert haben. Und da stimme ich zu: Es ist enorm wichtig, dass Leute protestieren und sich solidarisieren – und nicht nur auf die Straße gehen, weil sie persönlich und qua Identität betroffen sind. Sondern weil sie Menschen sind, die für Gerechtigkeit aufstehen. Ich gebe ein Beispiel: In Eichmann in Jerusalem hat Hannah Arendt Israel dafür kritisiert, dass die Anklage auf „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ lautete. Sie hat gesagt, man hätte Eichmann anklagen müssen für Verbrechen gegen die Menschheit. Das ist ein enorm wichtiger Satz. Und deshalb stehe ich auch zu „Black Lives Matter“: Weil es dieser Bewegung um eine Kritik an der Ungerechtigkeit gegenüber der Menschheit als Ganzes geht.

 

Sie sagen nun, Sie unterstützen „Black Lives Matter“, weil für Sie die wichtigste These nicht ist, „Schwarze Leben müssen geschützt werden“, sondern „Alle Leben müssen geschützt werden“. Wo ist da jetzt der Unterschied zu „All Lives Matter“, dem Slogan der rechten Gegenbewegung?

Ganz einfach: „All Lives Matter“ ersetzt eine empirische Tatsache durch eine allgemein bekannte Wahrheit. „All Lives Matter“ ist banal. Wer nicht anerkennt, dass Schwarze Leben wirklich hundert Mal mehr gefährdet sind, missachtet empirische Wahrheit. Man darf die Ebenen nicht verwechseln.

 

Was ist denn überhaupt Wahrheit? Ist eine gemeinsame Wahrheit denkbar, und kann sie erreicht werden in einer Gegenwart, in der sich mittlerweile Fakten als Meinung darstellen lassen und Glauben als Wahrheiten?

Ich habe absolut keine universelle Definition von Wahrheit und ich lehne allgemeine Definitionen von wichtigen philosophischen Begriffen vollständig ab. Ich würde auch nicht Gerechtigkeit definieren oder das Böse, auch wenn ich viel darüber geschrieben habe. Ich weiß, das erwartet man immer von Philosoph*innen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass solche Versuche nur zwei Richtungen kennen: Entweder sind sie so allgemein, dass sie überhaupt nichts sagen und niemandem weiterhelfen, oder – wenn sie irgendwie bestimmter sind – lassen sie Vieles aus. Ich sage nur: Der gemeine Menschenverstand weiß, dass die Klimakrise eine echte Bedrohung ist. Glücklicherweise erkennen selbst die meisten überzeugten Poststrukturalist*innen an diesem Punkt eine Wahrheit, die sie nicht infragestellen. Die reden viel von der Klimakrise, dem Anthropozän. Das ist vielleicht die Tür, die man benutzen muss, um zu sagen: Hey, was auch immer ihr glaubt, über die Wahrheit ganz im Allgemeinen zu wissen, erkennt ihr doch bestimmte Wahrheiten an. Und ihr habt Angst um die Zukunft des Planeten. Und auch ihr versucht euch vor Corona zu schützen. Und da fängt man an, miteinander zu reden.

 

Apropos miteinander reden: Sie haben Europa einmal als „Bollwerk der Demokratie“ bezeichnet. Angesichts der Verweigerung oder Unfähigkeit der EU, sich auf eine gemeinsame Asylpolitik, geschweige denn Einwanderungspolitik zu verständigen; angesichts einer Pandemie, der jeder Mitgliedsstaat andere Maßnahmen entgegenzusetzen versucht und gegenseitige Reisewarnungen ausspricht: Ist Europa noch immer ein Bollwerk der Demokratie? 

Ich bin sehr von Europa enttäuscht, gerade in diesen beiden Punkten. Ich finde es verheerend, dass Europa so unfähig ist, seine eigenen Ideale umzusetzen. Und jetzt sehen wir die Schwäche der Demokratie im postfaktischen Zeitalter. Wenn Polen, Ungarn, aber auch Großbritannien in nationalistische Propaganda verfallen – dann gibt es zurzeit nicht viel, was ein demokratisches Bündnis machen kann. Ich will nicht sagen, dass es hoffnungslos ist. Aber den keimenden Nationalismus sehe ich auch als Reaktion auf den globalen Neoliberalismus – und davon hat sich die EU nicht klar genug distanziert.

 

Ist Nationalismus also eine Folge neoliberaler Marktwirtschaft?

Ja! Dieser neue Nationalismus entstammt einem Gefühl der Hilflosigkeit. Wir wissen nicht, wer die Welt regiert. Wir wissen nur, dass wir es nicht sind. Also selbst wir, die relativ privilegiert sind, die als Meinungsmacher*innen gesehen werden; wir wissen überhaupt nicht, wo wir ansetzen sollen.

Das klingt ja fast nach Verschwörungstheorie.

Wenn das so ist, dann ist Marx der erste Verschwörungstheoretiker!

 

Manche würden dem zustimmen.

Ich glaube nicht, dass irgendjemand ernsthaft daran zweifelt, dass internationale Konzerne mehr Macht haben als einzelne Regierungen – angefangen bei Angela Merkel, die von „marktkonformen Demokratien“ statt von demokratiekonformen Märkten spricht. Und Merkel ist keine Verschwörungstheoretikerin und auch keine Marxistin. Aber das sind die Verhältnisse. Und der Rückgriff auf den Nationalismus ist auch ein Versuch zu sagen, lieber doch ein bisschen Macht in den eigenen Händen, als ungesehenen Mächten hilflos ausgeliefert zu sein.

 

Wenn es Europa nicht mehr ist: Von wem könnte denn eine neue Aufklärung ausgehen?

Ich bin enttäuscht von Europa, ohne Wenn und Aber. Dennoch bitte ich all jene, die Europa kritisieren, sich einmal die Welt anzuschauen. Russland, China, Indien, Brasilien, die USA – das sind die Großmächte im Augenblick. Und die haben nicht einmal den Versuch unternommen, gemeinsame Werte zu formulieren, geschweige denn sie zu realisieren. Europa ist der letzte Hort aufklärerischer Werte. Und wir zerfleischen uns im Klein-Klein und in nationalistischen Fragen, ohne eine größere internationale Perspektive zu haben.

 

Also soll sich Europa zusammenreißen und eine neue Aufklärung initiieren? Ist das nicht eine – vielleicht notgedrungen – eurozentrische Sicht?

Die europäische Aufklärung hat den Vorwurf des Eurozentrismus erst erfunden, das reicht von Montesquieu bis Wolff bis Kant bis Rousseau bis Diderot, sie alle haben gesagt, Europa muss von anderen Ländern lernen. Und dafür haben sie auch einiges riskiert. Natürlich muss die europäische Geschichte durch andere Geschichten, muss die europäische Perspektive durch andere Kulturen erweitert werden. Aber das wussten schon die Aufklärer.

Susan Neiman
© Cindy Konig

Susan Neiman

Neiman ist Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam. Sie studierte Philosophie an der Universität Harvard und der Freien Universität Berlin. Bis 2000 war sie Professorin in Yale und Tel Aviv mit den Schwerpunkten Moralphilosophie und politische Philosophie. Veröffentlichungen u.a.: “Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie” (Suhrkamp 2002), “Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten” (Ecowin 2017).

 

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