Auf beiden Seiten der Front

Oliver Frljić

Ein Monolog von Oliver Frljić über Theater und Freiheit

BURGTHEATER MAGAZIN: Freiheit
© studio VIE

Ich habe immer versucht, die Idee zu überwinden, dass das Theater der Literatur zu dienen habe. Ich wollte das Theater immer aus dieser Rolle befreien. Aber das ist kein simpler Vorgang, es kann nicht darum gehen, einfach keine Stücke mehr aufzuführen, oder den westlichen Kanon zu ignorieren. Ich habe das Theater immer als ein komplexes Medium betrachtet und den Text nur für ein Element – und nicht einmal unbedingt das wichtigste – bei der Produktion von Bedeutung gehalten. Für mich gehört das Theater eher zu den bildenden Künsten. Dieses Theaterverständnis ist natürlich von besonderer Bedeutung für mich, seit ich hauptsächlich als „Gastarbeiter“ in einem mir fremden Sprachraum beschäftigt, also ständig von bestimmten Bedeutungsebenen ausgeschlossen bin. Ich empfinde das nicht nur als Hindernis, sondern auch als Vorteil, weil ich auf diese Art und Weise andere Werkzeuge des Verstehens auszubilden gezwungen bin. Visuelle Zeichen wirken oft sehr viel schneller und etwas weniger abhängig vom kulturellen Umfeld, als Informationen, die über Text und gesprochene Sprache vermittelt sind.

Früher habe ich mich als einen eindeutigen Vertreter eingreifender Kunst verstanden. Ich habe damit experimentiert, Kunst als ein Instrument direkter politischer Aktion zu nutzen. Aber, um es kurz zu sagen: es ist kein sehr effektives Instrument.

Wenn in unserer Inszenierung in einer Szene die Fotografien von Regierungsmitgliedern gegessen werden, dann ist das auf einer Ebene ein interpretierbares Bild, vielleicht sogar ein bisschen banal, aber was mich daran interessiert, ist die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Körper, die sichtbare Anstrengung, die es kostet, wenn man versucht, Papier zu kauen und zu schlucken. Das Mitleid und der Mangel an Mitleid. Natürlich drückt sich die Bedeutung: hier werden die Porträts von Politikern gegessen, immer wieder durch. Aber mein Ziel ist, dass sich die Inszenierung „auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber“ bewegt, wie es in Heiner Müllers Text von HAMLET heißt, dass sich die Spannung aufrecht erhalten lässt zwischen der Abwesenheit von Bedeutung und dem unabweisbaren Bedürfnis danach, denn das ist der Ort, an dem das wirkliche Drama sich ereignet.

Wir haben in der Vorbereitung unserer Inszenierung gemeinsam mit dem Ensemble die Dokumentation "Time is out of joint" von Christoph Rüter über Heiner Müllers berühmte HAMLET- und HAMLETMASCHINE- Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin aus dem Jahr 1990 gesehen. Während der Proben zu dieser Produktion fiel die Berliner Mauer, die Premiere fand eine knappe Woche nach den letzten Volkskammerwahlen der DDR statt. So großartig und ästhetisch überzeugend diese achtstündige Inszenierung wahrscheinlich war, so erzählt die Dokumentation doch von einem Scheitern. Einige von Heiner Müllers zentralen Ideen schienen sich damals in Luft aufzulösen. Sein Schreiben hat immer darauf abgezielt, feste und eindeutige Bezugspunkte zu vermeiden, seinen Texten etwas frei Fluktuierendes zu erhalten, oder wie er gesagt hat, nicht Parabeln zu schaffen, deren Bedeutung und Aussage vom Autor kontrolliert werden, sondern Metaphern, die sich der eindeutigen Auflösung widersetzen, die „mehr wissen“ als ihr Autor. Plötzlich schien angesichts der politischen Ereignisse völlig klar zu sein, wofür HAMLET und was in der HAMLETMASCHINE steht, und die Dokumentation zeigt anschaulich, wie sehr diese Tatsache die Beteiligten deprimiert.

Was den direkten Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen angeht, sind andere Medien dem Theater heute weit überlegen. Das Theater ist ein altes Medium, vergleichsweise langsam und in seiner Reichweite beschränkt. Es sollte daher auch nicht versuchen, die neuen Medien nachzuahmen, das wird nicht gelingen. Gleichzeitig bin ich auch skeptisch gegenüber den Beschwörungen des „realen“ Moments geteilter Gegenwart zwischen Bühne und Zuschauerraum. Es gibt diesen essentiellen, unvermittelten Augenblick im Theater nicht. Alles ist vermittelt, Teil des Mediums, unser Blick wie unsere gesamten Wahrnehmungen. Alles Bilder von Bildern. Ich stehe in dieser Frage auf beiden Seiten der Front, um die Formulierung noch einmal zu bemühen. Früher habe ich mich als einen eindeutigen Vertreter eingreifender Kunst verstanden. Ich habe damit experimentiert, Kunst als ein Instrument direkter politischer Aktion zu nutzen. Aber, um es kurz zu sagen: es ist kein sehr effektives Instrument. Die Forderungen der russischen Avantgarde nach der Überwindung der Trennung von Kunst und Leben sind nicht nur nie verwirklicht worden, sondern haben im Dogma des Sozialistischen Realismus geendet und in vielen Fällen zur Inhaftierung von Künstlern und in einigen zu ihrem Selbstmord geführt. Auf beiden Seiten der Front zu stehen, muss aber nicht unbedingt bedeuten, auf immer unentschieden zu bleiben, es kann auch heißen, die Spannung aufrechtzuerhalten, den Anspruch auf politische Veränderung nicht aufzugeben, ohne naiv an die Wirksamkeit von Kunst zu glauben. Wahrscheinlich sollte man die Frage am besten unbeantwortet lassen.

© Lukas Beck

Oliver Frljić

1976 in Bosnien geboren, hat an der Akademie für szenische Künste in Zagreb studiert und war mit seinen Produktionen früh auf internationalen Festivals vertreten, u.a. bei den Wiener Festwochen, dem MESS Festival in Sarajewo, dem BITEF in Belgrad und der Europäischen Theaterbiennale in Wiesbaden. Von 2015 bis 2016 war er Intendant des Nationaltheaters in Rijeka. Aus Protest gegen die kroatische Kulturpolitik und politische Reaktionen zu seiner Intendanz gab Oliver Frljić im Frühjahr 2016 seinen Rücktritt bekannt. Seither inszeniert er vor allem im deutschsprachigen Raum. Im Kasino am Schwarzenbergplatz hatte Mitte Jänner seine Inszenierung von Heiner Müllers HAMLETMASCHINE Premiere. Der hier abgedruckte „Monolog“ ist aus verschiedenen Abschnitten eines Gesprächs kompiliert, das Oliver Frljić im Rahmen der Produktion mit Sebastian Huber geführt hat.

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