Zusammen heißt getrennt
Den Neuanfang nach der mehrmonatigen Unterbrechung durch Lockdown und Spielzeitpause nehmen die Moderator*innen von APROPOS GEGENWART, Sasha Marianna Salzmann und Isolde Charim, zum Anlass, einander zu befragen. Ein Gespräch über die Erfahrung von Solidarität durch Distanz, schreckliche Normalzustände und den Körper als Politikum.
Apropos Gegenwart
21.10.2020 #6 Die Macht der Massen. Isolde Charim im Gespräch mit Sven Rücker
11.11.2020 #7 Sprache und Selbstwert: Sasha Marianna Salzmann im Gespräch mit Melisa Erkurt
Sasha Marianna Salzmann: Welche Bedeutung haben für dich Gesprächsformate wie unseres – und Theaterräume generell – in Zeiten dieser Pandemie?
Isolde Charim: Neben der gesundheitlichen Bedrohung gibt es noch eine andere schwierige Erfahrung der Pandemie: die Erfahrung von Gesellschaft als Trennung. Gesellschaft heißt nunmehr Abstand. Solidarität heißt Distanz. Zusammen heißt getrennt. Das ist schwer auszuhalten. Gesprächsreihen und Theaterräume haben da eine eminente Funktion: nämlich das Versammeln. Das ganz körperliche Versammeln, das ganz reale Zusammenkommen. Das ist eine Erfahrung, der wir gerade jetzt bedürfen. Denn es hat sich gezeigt, dass all unsere virtuelle Kommunikation, wie ausgefeilt auch immer, gerade das körperliche Versammeln nicht ersetzen kann.
Sasha Marianna Salzmann: Es ist eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich, dass man ohne Theater und reale Versammlungsräume nicht auskommt. Für mich war die Kunst in den Lockdown-Wochen so etwas wie ein Beruhigungsmittel: Ich verkrallte mich in Bücher, hörte ununterbrochen Musik, schaute mir Fotobände an, um im Kopf zu reisen. Nur gestreamtes Theater ging für mich nicht, die intendierte Wirkung stellte sich einfach nicht ein. Theater funktioniert eben nur dann, wenn wir gemeinsam Zeit und Raum teilen, das ist unersetzbar. Die digitalen Gesprächsformate, die das Internet fluteten, haben uns viel Wichtiges gelehrt, sicherlich auch inhaltlich, aber auch, wie viel mehr politische Kraft im Live-Moment steckt. Jedes Anliegen gewinnt an Bedeutung durch eine Zeremonie: das Anreisen, besondere Kleidung, Scheinwerfer, körperlich anwesendes Publikum, der Austausch mit anderen vor und nach der Veranstaltung. Offenbar ist der Mensch auf Rituale angewiesen. Halbangezogen auf Youtube Philosoph*innen in deren Wohnzimmer zuzuhören, geht deutlich weniger unter die Haut. Glaubst du, Isolde, wir lernen gerade viel über uns als Spezies?
Isolde Charim: Was wir lernen oder besser erfahren, ist: Das plötzliche Auftauchen eines unbekannten Virus kann alle Vorstellungen von Normalität und Sicherheit in Frage stellen. Also all die Vorstellungen, die wir für das simpelste Alltagsleben benötigen. Es ist ein Einbruch in das, was man am gesichertsten glaubte: Normalität. Dies ist eine existentielle Erschütterung. Die Frage ist, ob sich dieser Glaube wieder herstellen lässt. Und wenn ja, wie!
Sasha Marianna Salzmann: Mich irritiert dieser unbedingte Wunsch nach der Wiederherstellung der Situation, wie sie vorher war. Das bedeutet nämlich auch, eine Chance zu verpassen, gravierende Bedingungen des Miteinanders zu überdenken. 2019, vor COVID-19, gab es in Österreich den sogenannten Ibiza-Skandal und das damit verbundene blamable Ende der türkis-blauen Regierung; in Deutschland versuchte ein bekennender Rechtsradikaler an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, die Tür der Synagoge in Halle zu sprengen, ein anderer tötete im Februar 2020 zehn Menschen in einer Shisha-Bar in Hanau. Und auf den Straßen demonstrierte Fridays for Future gegen die Zerstörung des Planeten. Das Gefühl der Normalität, das uns jetzt in der Pandemie abhanden gekommen ist, war eine Illusion. Oder anders: Es wäre schrecklich, wenn dieser Zustand normal wäre. Ist es nicht besser, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass die paar wenigen Privilegierten, die sich vor Corona sicher gefühlt haben, es nur tun konnten, weil sie sich mit den Krisen und drängenden Fragen dieser Gesellschaft nicht befassten?
Isolde Charim: Ich finde, man muss unterscheiden: der Wunsch zur Wiederkehr einer Alltagsnormalität ist absolut nachvollziehbar. Wer möchte nicht wieder unbedachte Kontakte, körperliche Nähe. Die sonstige Rückkehr zum Status quo ante hingegen ist alles andere als wünschenswert. Aber wenn man bedenkt, was zu Anfang der Pandemie alles an utopischen Wunschvorstellungen geäußert wurde – und jetzt? Jetzt hat man den Eindruck, dass sich davon nichts, aber auch gar nichts realisieren wird. Im Gegenteil. Nun droht sogar eine Verschlimmerung durch eine massive Wirtschaftskrise. Wenn man das bedenkt, dann schluckt man. Aber man muss sich vor Augen halten: Dies ist kein politisches Projekt, sondern eine Pandemie. Und für eine solche gilt, was die Geschichte lehrt: Seuchen waren nie moralische Besserungsanstalten, aus denen die Menschen geläutert und die Welt verbessert hervorgingen. Nur verändert.
Sasha Marianna Salzmann: Die Pandemiemonate offenbarten unter anderem, wer in dieser Gesellschaft am wenigsten abgesichert ist: Frauen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Menschen, deren sexuelle Ausrichtung oder Geschlechteridentität aus der vorgegebenen Norm fällt ... Also diejenigen, denen über Jahrzehnte (und Jahrhunderte) strukturell der gleichberechtigte Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen verwehrt wurde. Frauen sind wieder verstärkt für Kinderbetreuung und Pflege zuständig, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung werden, wenn es zum Beispiel um das Tragen von Mundschutz geht, erst sehr spät bedacht. Es ist tragisch zu sehen, wie schnell postulierter Fortschritt zur Nebensache wird. Unser Überleben hängt von Solidarität ab. Konsum ist keine Grundlage für ein Miteinander. Wenn wir diese einfachen Formeln weiterhin als linkliberales Geschwätz abtun, haben wir keine Chance. Ein zentrales Thema der neuen Burgtheater-Spielzeit ist „Körper- Politik“. Das passt hervorragend zur Situation. Was interessiert dich daran?
Isolde Charim: Ich sehe das genauso, dass sich die gesellschaftliche Hierarchie in der Pandemiebedrohung spiegelt. Ich würde aber deine Liste jener, die am wenigsten abgesichert sind, noch ergänzen um jene, die in dieser Zeit den schönen Namen „Systemerhaltende“ bekommen haben. Jene, für die man auf den Balkonen und an den Fenstern aus sicherer Entfernung geklatscht hat. Jene, die alles am Laufen hielten, indem sie sich exponiert haben. Und da muss man daran erinnern, dass sich das Klatschen nicht in die klingende Münze einer finanziellen Anerkennung übersetzt hat.
Zu deiner Frage nach dem Körper-Thema: Mich interessiert vor allem die politische Frage nach dem Umgang mit Körpern, also alle Fragen der Bio-Politik. Wie sehr sind wir Herren/Herrinnen unserer Körper und wie sehr dient der Körper der Unterwerfung? Gerade in dieser Zeit, wo der Körper für alle sichtbar zum direkten Politikum geworden ist. Und gerade in einer Zeit, wo wir erfahren haben, dass wir zuallererst durch unsere Körper miteinander verbunden sind. Alle.
Sasha Marianna Salzmann: Vielleicht ließ sich Politik noch nie von dem Begriff „Körper“ trennen. Körper sind Arbeitskraft, sie sind Ware, sie sind Kanonenfutter. Das ihnen zugewiesene Geschlecht ist ein Regularium, seine physischen und psychischen Möglichkeiten entscheiden über Zugänge – bildlich, aber auch wörtlich gesprochen. Mich interessiert unter anderem die Entwicklung der Disability-Bewegung und an welchen Schnittstellen sie sich mit anderen Menschenrechtsbewegungen heute verbindet. Aber vor allem interessieren mich die Schnittpunkte zwischen den unterschiedlichen Strömungen des politischen Körper- Aktivismus. Welche Formen des zivilen Ungehorsams praktizieren zum Beispiel Queers, um dem heteronormativen Diktat zu entgehen, sich in eine duale Geschlechterordnung einzuordnen? Der Philosoph Paul B. Preciado sagt dazu: „Ich will mich nicht in einen Mann verwandeln und auch nicht meinen Körper transsexualisieren; ich nehme Testosteron, weil ich Verrat an dem üben will, was die Gesellschaft aus mir zu machen versucht.“
Isolde Charim
geboren 1959 in Wien, langjährige Lehrtätigkeit an der philosophischen Fakultät der Universität Wien, ist u.a. ständige Kolumnistin der taz und der Wochenzeitung Falter (2006 Publizistikpreis der Stadt Wien). Im Zsolnay- Verlag erschien im Frühjahr 2018 der Band "Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert", für den sie den Philosophischen Buchpreis 2018 erhielt. Seit 2007 ist Isolde Charim wissenschaftliche Kuratorin am Bruno Kreisky Forum.
Sasha Marianna Salzmann
geboren 1985 in Wolgograd, schreibt Theaterstücke, Essays und Erzählliteratur. Seit der Spielzeit 2013/14 ist sie Hausautor*in am Maxim Gorki Theater Berlin. Gemeinsam mit Max Czollek initiierte sie 2016 den Desintegrationskongress und 2017 die Radikalen Jüdischen Kulturtage in Berlin. Ihr Debütroman "Außer sich", 2017 bei Suhrkamp erschienen, war im selben Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und ist in mittlerweile 16 Sprachen übersetzt.