Wir sind nicht allein

Manchmal muss man ins Theater gehen (und wie gut, dass man das jetzt wieder darf!), um zu verstehen, was eine Gesellschaft gerade beschäftigt. Auch als Programm-Macher, so ehrlich darf man schon sein, versteht man manchmal nach dem Besuch der ersten zwei Premieren im Burg- und Akademietheater manches besser.  Vielleicht auch nur die Frage – aber immerhin. 

Zwischen DAS LEBEN EIN TRAUM und ANTIGONE. EIN REQUIEM, zwischen dem Abgesang auf die Souveränität aus dem Jahr 1634 („König sei er, träumt der König; und in diesen Wahn versenkt, herrscht, gebietet er und lenkt“, heißt es hier) und dem wuchtigen Bestehen auf gemeinsamer Verantwortung („es sind unsere toten“, heißt es dort) von 2020 liegen einerseits Welten, andererseits stellen beide eine sehr ähnliche Frage. Sie lautet: Wie nutzen wir unsere Freiheit?

Bei Calderón wird die menschliche Freiheit in schmerzhafter Dialektik entwickelt: sie entsteht und sieht sich infrage gestellt durch eine existentielle Ungewissheit. Wenn sich für den Prinzen Sigismund die Wirklichkeit nicht mehr erkennen lässt, wenn sie undurchsichtig, unbestimmt, traumhaft geworden ist, dann sind es ihre Beschränkungen auch:

 

So auch träumt mir jetzt, ich sei hier gefangen und gebunden.  

Vielleicht verschwinden die Fesseln in so einem Moment nicht gleich, aber es lässt sich jedenfalls über sie hinaus denken und träumen. Eine Welt voller Möglichkeiten, oder - besser noch – eine unausdenkliche Zahl möglicher Welten liegt vor jeder und jedem. 

Die Welt, in der Thomas Köck seine Antigone-Verschärfung schreibt, ist genau diese Welt entfalteter Individualität und unendlicher Möglichkeiten, mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, dass an jeder der möglichen Welten ein Preisschildchen baumelt, das die Wahlmöglichkeiten empfindlich einschränkt. Die Toten, die es in diesem Stück und in unserer Wirklichkeit an die europäischen Strände spült und die Köcks Antigone in die Stadt und ins Bewusstsein schleift, sind eine Folge dieser brutalen Beschränkungen, sie sind die Opfer unserer Freiheiten, sie bezahlen den Preis. Und wir nehmen uns die Freiheit, das nicht „für wahr“ zu nehmen. Insofern ist das Leben auch in diesem Stück ein Traum. Es ist der Traum von der Unschuld der Geschichtslosigkeit, der Traum von der Freiheit – von Verantwortung. Und Antigone ist gekommen, um uns daraus zu wecken; sie besteht auf der Rückbindung an den „Fluch“ der Geschichte, und das ist eindeutig eine Aufgabe nicht für eine und einen Einzelnen, sondern für eine Gemeinschaft, einen Chor.

Mit einem Chor geht auch die Inszenierung von „Das Leben ein Traum“ zu Ende, allerdings ist dieser Chor „nur“ erträumt und stammt nicht von Calderón, sondern aus einer späteren Bearbeitung des Stücks durch Pier Paolo Pasolini. In ihm wird ein Gefangenenlager durch den vielstimmigen Gesang einer revolutionären Masse befreit. Es ist dies die Reaktion der Inszenierung auf die spezifische Form von „Verantwortung“, die der Prinz Sigismund aus seiner Einsicht in die Zerbrechlichkeit der Welt zieht: er bezieht sich zurück auf die Autorität seines Vaters, auf die Regeln der Macht, zu der neben der Beherrschung der Untertanen auch die Beherrschung des eigenen Begehrens, die Selbstbeherrschung gehört. Absolutismus, Autokratie als Staatsform und als Lebensentwurf steht also am Ende von Calderóns Stück und das will diese Inszenierung nicht auf sich beruhen lassen.

Despotie ist letztlich auch die Perspektive in Thomas Köcks ANTIGONE. EIN REQUIEM, in der Kreon für eine „slim fit“-Version gelebter demokratischer Praxis wirbt, bei der per „message control“ gefiltert wird, was zu wissen für die Bevölkerung Sinn macht. 

Und auch hier betritt ganz zuletzt ein „ganz anderer“ Chor die Bühne, gebildet von den Toten selbst, die sich von den Stränden aufmachen ins Zentrum der Stadt, ins Zentrum der Macht - und des Bewusstseins.

Franz Pätzold (Sigismund)
© Andreas Pohlmann
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