„Wie schmeckt Europa?“ - Lettre Culinaire #1

Lettre Culinaire

Rezepte leben und entwickeln sich, wenn sie nicht in ein Korsett eingezwängt sind und wenn sie die sich bietenden Möglichkeiten an Zutaten frei verwenden. Ähnlich der Archäologie geht es nicht um das freilegen und losreisen aus den historischen Lebensumstanden, vielmehr um eine harmonische Weitergabe von Geschmacksgewohnheiten in Kombination mit zusätzlichen Erfahrungen und Einflüssen, die die Lebensmittelgewinnung heutzutage ermöglicht und bedingt. Dadurch, dass die europäische Frage des Umgangs mit den Sprachen nicht gelöst ist, verfällt man zusehends auf die geschützten Speisen und Getränke der Regionen und glaubt, damit den kulturellen Besonderheiten Genüge getan zu haben. Dabei hat man eine jahrhundertelange Entwicklung jäh abgestoppt und eingefroren.

Culinaire L'Evrope
© Marcella Ruiz Cruz

Mit den Bänden DER GESCHMACK EUROPAS. EIN JOURNAL MIT REZEPTEN hat der Autor und Verleger Lojze Wieser Kochbücher der besonderen Art vorgelegt. Seine kulinarischen Entdeckungsreisen basieren auf der TV-Dokumentationsserie des ORF, die auch auf 3sat ausgestrahlt wird. Die sinnliche Erweiterung von Buch und TV-Format – sprich: riechen, kosten, schmecken und genießen – steht seit Jänner 2020 auf dem Speise-Spielplan im Kasino. Jede neue Ausgabe widmet sich einer anderen europäischen Region und ihren Spezialitäten. Passend zum Menü erwartet das Publikum literarische und musikalische Begleitung.

Die europäischen nationalen Normen sind rückwärtsgewandte Träger nationalistischer Subinformation und in ihrer Perspektive reaktionär, da sie sich neuen Gegebenheiten und einer Weiterentwicklung verwehren und den Speisen den nationalen, den emotionalen Aspekt überstülpen und damit vermitteln, dass die einstigen ärmlichen Verhältnisse wieder erstrebenswert und anzupeilen waren. Damit geht der historische Kontext, die Rezeptur als Ausdruck der Kreativität der Köchinnen, verloren, und wird in weiterer Folge verherrlicht und impliziert den Wunsch, solche Zustände wieder zu beleben. Abgesehen davon, dass es die damals gegebenen Zutaten nicht mehr gibt und daher „Authentizität“ nur folkloristische Blendung ist, die die niederen Aspekte von „Wir sind wir“ bedient, sind das auf die Dauer auch keine geeigneten Strategien gegen die Landflucht und den wirtschaftlichen Verfall vieler Regionen.

 

Kirchtagssuppe/ Č’Sava Župa Z Gur

Mit Zimt aus 36 Zutaten (oder auch nicht), wie sie von unserer Mutter, Ana Wieser (1926-2015), gekocht wurde. Die besten Stücke zum Kochen von Huhn, Lamm, Rind und Kalb werden mit Kalbsknochen und Markknochen, Suppengemüse und Wurzelwerk– Sellerie, gelbe und rote Karotten, Petersilie, Liebstöckel, Zwiebel, Thymian, ein wenig Anissamen, Fenchelsamen und Fenchelgrün, drei bis fünf Nelken, Koriandersamen, Muskatnuss, Muskatbluten, Lorbeerblatt, Schalotte, Knoblauch, Salz, Pfeffer, wenn vorhanden einem Pfefferoni und/oder Chili – weichgekocht (27 Zutaten bisher), aus der Suppe genommen, ausgekühlt, ausgelöst, später in kleine Würfel geschnitten und der Suppe wieder beigefügt. Die Suppe wird abgeseiht, ein sehr großer Bund Basilikum (eigentlich alles, was der Garten hergibt) und auch Liebstöckel im Bund werden in die Suppe gehängt, mit gesprudeltem saurem und süßem Rahm und Mehl gebunden, mit den Fleischwürfeln vermengt, mit gesprudeltem Eidotter verfeinert (nicht mehr aufkochen), nachgewürzt, falls notwendig, und heiß serviert. Am Tisch wird die Suppe mit in Butter gerösteten Semmelbrotwürfeln und Zimt verfeinert und gegessen (ergibt weitere 9 Zutaten). In Serbien, Makedonien und Bulgarien nennt man diese feine Spezialität wiederum Bela Čorba.

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