„Wie schmeckt Europa?“ - Lettre Culinaire #2
Mit den Bänden "Der Geschmack Europas". Ein Journal mit Rezepten hat der Autor und Verleger Lojze Wieser Kochbücher der besonderen Art vorgelegt. Seine kulinarischen Entdeckungsreisen basieren auf der TV-Dokumentationsserie des ORF, die auch auf 3sat ausgestrahlt wird. Die sinnliche Erweiterung von Buch und TV-Format – sprich: riechen, kosten, schmecken und genießen – steht seit Jänner 2020 auf dem Speise-Spielplan im Kasino. Jede neue Ausgabe widmet sich einer anderen europäischen Region und ihren Spezialitäten. Passend zum Menü erwartet das Publikum literarische und musikalische Begleitung.
Tscholent – Ritschert – Ričat
Eine der Erklärungsvarianten des Ritscherts meint, dass es eine Abwandlung der jüdischen Speise Tscholent sei (siehe auch Rolf Schwendter: „Bemerkenswert ist die Konstellation von Tscholent, Kugel und Zimmes: in viel Fett langsam gar geschmorte Sabbatspeisen, die am Vorabend in den Bäckerofen gestellt wurden. Der Tscholent, vom altfranzösischen ,chauld’ (Wärme) herkommend, ist hierbei eine Kombination aus Eintopf und Auflauf, kombiniert aus Fleisch (oft Geflügel), Hülsenfrüchten, Graupen und Gewürzen.“)
Marcel Ihnačák aus Mikulov/Nikolsburg in Mähren bereitet „die Himmelsspeise, die der liebe Herrgott selber einst den Moses kochen lehrte“ – wie Heinrich Heine schrieb – den Tscholent, Schalet oder Scholent – zu. Ihn zu kochen wäre eine Glaubensfrage, die sich von Region zu Region unterscheidet. Und wie der Ursprung des Gerichts ist auch die Zubereitung vielfältig: Soll er auf dem Herd oder im Backofen oder beim Bäcker im Gemeinschaftsofen gemacht werden?
„Ich denke, Tscholent ist eine der typischsten jüdischen Speisen, weil es eine Speise ist, die immer am Schabbat gegessen wird. Das bedeutet, dass am Freitagmorgen alles vorbereitet wird. Freitagmittag beginnt dann der Schabbat, der bis zum Samstagabend dauert. Es ist eine Speise, die im warmen Backrohr fertig gegart wird, weil in dieser Zeit nicht gearbeitet und gekocht werden darf. Aufgrund des Schabbats wurde Tscholent wahrscheinlich so eine typische Speise“, erläutert Marcel Ihnačák. Der Tscholent knüpft sowohl an mediterrane Kochtraditionen als auch an tausendjährige alpine Zutaten an, die ähnliche Gerichte wie den Ritschert/ Ričat hervorbrachten, wie Rolf Schwendter in „Arme essen – Reiche speisen“schreibt. Und: Je nach Glauben wird anderes Fleisch verwendet …
Je nach Ort fand statt Gänse- oder Entenfleisch auch Schweinefleisch in den Suppentopf. Die Fleischsuppe, aus Geräuchertem gekocht, da sie eine Winterspeise war, wurde zuerst mit Brein (Hirse) und später mit Rollgerste verfeinert (siehe auch: Kugler/Maier, "Santoninos Kost", S. 45: Fleischsuppe mit Gerste).
Die geräucherten Fleischteile geben der Suppe auch ihren typischen Geschmack. Die Karster Jota, mit dem Knochen des Pršut und der Zugabe von Kraut, Bohnen und Kartoffeln, ist wohl eine weitere Abwandlung, die den Gegebenheiten der Zeit, der Region, des Anbaues usw. Rechnung trug, indem verarbeitet wurde, was die Natur hergab und was gerade vorhanden war. Unsere Mutter gab zum Beispiel den Wiesensalbei dazu, damit bekam die Suppe einen feinen gelben Stich, erinnerte an Safran und hat nicht so intensiv nach Salbei geschmeckt, wie wenn sie den Gartensalbei beigefügt hätte. Orzoto wird die Speise in Dalmatien genannt, wo sie sehr ähnlich mit Hühnerfleisch und Weißwein zubereitet wird, und sich wieder dem Tscholent annähert.
Da der Ritschert/Ričat auch in slowenischen Gefängnissen eine beliebte Speise war, gibt es auch die Deutung, der Name würde von rešet oder rešetke (Gitter, Häfen) kommen. Jedenfalls ist es eine Speise, die in großen Mengen nahrhaft zuzubereiten ist, also eine typische Armeleuteküche, wo alle Teile, auch die schon hart gewordenen, oft stundenlang weichgekocht und so genießbar werden. Man ließ nichts verkommen, es musste alles Verwendung finden und gegessen werden.
Im Karst erzählt man, dass der Knochen des alten Pršut bis zu viermal ausgekocht, von Haus zu Haus weitergereicht und zu immer lichteren Suppen verkocht wurde. Je ärmer die Gegend, umso mehr wurde die Phantasie der Köchinnen herausgefordert. Im Friaul heißt sie dann Minestra di orzo e fagioli.