Selbstschutz und Widerstand
Ein Freund von mir ist Forscher auf dem Gebiet der Mathematik. Interessiert fragte ich ihn, womit er sich gerade beschäftigt. Er sagte, er könne es nicht erklären. Er sei bei der Ableitung einer Formel an einem Punkt, an dem 200 Jahre lang niemand gewesen sei. Ich fragte ihn, mit wie vielen Personen er darüber sprechen kann und er antwortete, dass es in Ungarn zwei sind.
Was wäre, wenn die Antwort auf die derzeitige globale Krise auf den Gebieten Umwelt, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft eine derart komplexe Reihe von Handlungen wäre, die auf der Erde drei Menschen verstehen würden? In komplexen Situationen sind immer diejenigen handlungsfähig, die die Wirklichkeit vereinfachen, die nicht die Nuancen und Details betrachten (oder nicht sehen?) und so scheinbar wirksame Lösungen empfehlen können. Diese „Lösungen“ laufen sich wie von selbst ergebend vielen Interessen zuwider, jedoch sind die mit ihnen operierenden Führungskräfte in der Lage, Stärke zu demonstrieren.
Ungarn – genauer formuliert, die sich den Begriff aneignende Regierung – bietet gegenwärtig in einer komplexen Lage einfache Lösungen an und schafft es dadurch, in der Europäischen Union aufzufallen. Die ungarische politische Lage ist zum Teil auch vom Ausland aus wahrnehmbar und es lässt sich nur wiederholen: Die Mehrheit der Menschen in Ungarn muss heute in einem inhumanen System leben. Ich habe in diesem Zusammenhang keine Illusionen und keine Erwartungen, dass die EU für die inneren Probleme eine Lösungsmöglichkeit bereithalten kann. Offensichtlich wirkt sie wie eine Art Bremse, wobei aber auch zu beobachten ist, dass die Marktinteressen stärker sind als die Durchsetzung der demokratischen Interessen. Das gegenwärtige System Ungarns ist im Kern ein Netz von Wirtschaftsinteressen, das auf Korruption und Aneignung basiert. Es gelingt ihm, sich langfristig zu halten, indem es sich vor den Wählern ständig als effizient präsentiert. Das von ihm angebotene Programm ist ein genau berechnetes Marketingprodukt und in Bezug auf die Realität irrelevant. Vergeblich ist der Versuch, es ideologisch zu analysieren. Der Hauptideologe der neuen Verfassung der offen homophoben Regierung wird in Brüssel zu Zeiten der Pandemie auf einem illegalen Massenevent entdeckt: Er flieht von einer Schwulen-Sexparty, hält sich dabei an einem Abflussrohr fest und hat Drogen in seinem Rucksack. Das ist die Realität.
Gerate nicht auch ich genauso in die Falle, wie der sich an der Regenrinne wegduckende Abgeordnete des Europäischen Parlaments, wenn ich mich auch unwillkürlich mit dem Populis - mus der Regierung auseinandersetze? Hat die Diskussion dort einen Sinn, wo die Wirklichkeit und das politische Programm nichts miteinander zu tun haben? Sie hat keinen Sinn.
An ihre Stelle könnte allein der offene Kampf treten, dem hingegen der scheinbar aufrecht - erhaltene demokratische Rahmen eine Grenze setzt. Es bleiben einzig Selbstschutz und Widerstand. Sie sind jedoch gegenüber dem System nicht wirksam. Es wäre gut, aus einer heldenhafteren Position zu schreiben. (Ich spreche und diskutiere in Deutschland und Österreich viel über politische Fragen und habe die Erfahrung gemacht, dass ohne Kenntnis des ungarischen geschichtlichen und gesellschaftlichen Umfelds die Geschehnisse im Land schwer zu interpretieren sind. Tatsache ist: Ungarn ist es nicht gelungen, nach 1989 eine echte Systemwende zu vollziehen. Und es verpasste die Möglichkeit, bürgerliche Produktions- und Lebensformen durchzusetzen. Orbán erkannte genau, dass er entlang der europäischen, bürgerlichen Werte keine Chance hat, seine Macht dauerhaft zu erhalten. So wurde aus einem liberalen Politiker zunächst ein konservativer. Dann driftete er während seiner zweiten Regierungszeit immer mehr an den Rand der Rechten. Er unternahm es nicht, das Land in einem langsamen und diffizilen Prozess als Ganzes in Richtung Europa zu bringen. Aus der Sicht der ungarischen Gesellschaft ist dies ist eine Schuld von historischem Ausmaß.)
Viele wissen nicht, dass Orbán im Jahr 2002 die Wahlen bereits einmal verloren hatte. Als er erneut Ministerpräsident wurde, wollte er nach 2010 eine Konstellation schaffen, in der sich diese Niederlage nicht wiederholen konnte. Eine seiner damaligen Erkenntnisse war es, dass er hinter sich keine kulturelle Elite hatte – keine Medienstars, Popstars, Filmleute etc. ... Es gab viele, später als Linke gebrandmarkte, jedoch eher unabhängige Prominente, die ihn während seiner ersten Regierungszeit mittelbar oder unmittelbar kritisierten. Zum Zeitpunkt des zweiten Sieges war klar, dass nicht nur die Verfassung und die Wahlregeln verändert werden mussten, nicht nur eine eigene Wirtschaftselite aufgebaut werden musste, sondern dass es auch im kulturellen Leben Veränderungen bedurfte. Auch das Bildungswesen musste auf allen Ebenen umgekrempelt werden. Es braucht in den Köpfen einen möglichst vollständigen Einfluss.
Also begann neben der Aneignung der Medien – wo sich der Staat selbst in kommerzielle Kanäle einkaufte – ein Kulturkampf gigantischen Ausmaßes. Schritt für Schritt wurde der ideologische Mumpitz, mit dem alle zum Narren gehalten werden sollen – den ich, wie geschrieben nicht für glaubwürdig halte – Realität. Er beherrschte das kulturelle Leben.
Also begann neben der Aneignung der Medien – wo sich der Staat selbst in kommerzielle Kanäle einkaufte – ein Kulturkampf gigantischen Ausmaßes. Schritt für Schritt wurde der ideologische Mumpitz, mit dem alle zum Narren gehalten werden sollen – den ich, wie geschrieben nicht für glaubwürdig halte – Realität. Er beherrschte das kulturelle Leben. Dabei ist es aber tatsächlich so, dass er gar nicht so sehr bei den nationalen und nationalistischen Themen an Stärke gewann, sondern vielmehr auf der Ebene der Unterhaltungsindustrie. Zum Beispiel muss man sich das Theater im neuen System so vorstellen, dass dort sehr viele Boulevard-Komödien, Musicals und Operetten gespielt werden und weniger nationale Schicksalsdramen, die dem System dem Anschein nach einen nationalen Charakter verleihen würden. Das System ist selbst in seiner Verlogenheit inkonsequent.
Könnte dieser Text in Ungarn erscheinen? Ja. Aber nur in solchen Medien, die nicht die breite Schicht erreichen. Und unter Berufung auf genau diese scheinbare Freiheit weist die Regierung alle Anklagen von sich. Der Ministerpräsident äußerte sich gegenüber britischen Journalist*innen (in Ungarn steht er seit langer Zeit keinem unabhängigen Presseorgan Rede und Antwort), dass sie bei Zweifeln an der Pressefreiheit in Ungarn zu einem Zeitungsstand gehen und ein regierungskritisches Blatt kaufen sollen. Dann geht er in einem Propagandavideo selbst zu einem Zeitungshändler und informiert sich bei ihm, wie viele derartige Blätter es gibt und schwenkt sie vor der Kamera hin und her. Währenddessen wurde in den letzten Jahren das Erscheinen zahlreicher Blätter eingestellt und bei vielen verbliebenen die Fördermittel drastisch reduziert. Und der erwähnte Abgeordnete mit den Drogen im Rucksack kommt nicht in die Nachrichten. Das dramatische Bild kommt nicht zu den Massen, weil dort schon eine totale Kontrolle besteht. Die staatlichen Medien schweigen.
Wenn man mich fragt, ob ich als Regisseur in Ungarn ein kritisches Stück aufführen kann, dann antworte ich ebenfalls mit Ja. Die Tendenz ist ähnlich. Es gibt noch freie Theater. Die Menschen können alles Mögliche sagen, was ihnen beliebt. Sie sind nicht in Lebensgefahr, aber sie wissen, wo sie ihre Freiheit ausleben und ausdrücken können, und zwar auf geschlossenen, umgrenzten Foren. Also sind sie in Wirklichkeit nicht frei. Zukunftsaussichten: Fehlanzeige. Wenn es eine offene Zensur, Bedrohung oder Gefahr gäbe, könnte man sich dem entgegenstellen. Stattdessen wird man über irgendeinen geheimen Kanal darüber benachrichtigt, dass man keine Fördermittel bekommt und gewöhnt sich langsam, sehr langsam daran, dass immer alles etwas schlechter wird. Viele, die in materiellem Sinn für ihre Familie und für ihre Kinder verantwortlich sind, schließen einen schizophrenen Handel ab und tauchen genauso lang - sam in die Gleichgültigkeit.
Etwas zu verändern, ist nur im engeren Umfeld möglich. Mehr und mehr gelange ich zu der Ansicht, dass die wahren Held*innen jene sind, die in kleinen Momenten die Freiheit vertreten, ohne Aufsehen zu erregen. Ich denke da an die Lehrerin in der Mittelschule, die in einer Literaturstunde über die Liebe von Rimbaud und Verlaine spricht. Die linke Kunstszene und das akademische Umfeld spricht in Wirklichkeit nur auf geschlossenen Foren über die Freiheit. Sie sind in einem Ghetto, aber sie bemerken es gar nicht. Die Unabhängigkeit geht verloren. Viele driften in die Nähe oppositioneller politischer Kräfte, in der Hoffnung, bei einem eventuellen Regierungswechsel dann zu Geld und zu Posten zu kommen. Ich möchte selbst als Linker nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einer linken Regierung stehen, mit der ich eventuell sympathisiere.
In dem Roman “Die Pest” schreibt Camus, er musste einsehen, dass die Geschichte von Mördern geschrieben wird, und dass er selbst es nicht einmal vermochte, zu einem gemäßigten Mörder zu werden. Auch ich erlebe es als Niederlage, dass ich mit meinen eigenen Mitteln gegenüber dem System nichts erreichen kann. Camus’ Vorschlag ist es, in einer absurden Welt, seinen Platz auf der Seite der Opfer zu suchen. Ich versuche meine Arbeit auch auf diese Weise zu interpretieren. Und vielleicht kann ich noch eine Warnung in Richtung jener Länder aussprechen, wo das Warnen noch einen Sinn hat: Es gibt bei der Ausübung von Demokratie keinen Kompromiss. Ungarn war nicht auf der Hut. Es akzeptierte lange die kleinen Veränderungen, aber jetzt bleibt kein Spielraum mehr.
András Dömötör
wird 1978 in Ungarn geboren und lebt heute in Budapest und Berlin. 2003 schloss er sein Schauspielstudium ab, 2007 sein Regiestudium, beides an der Akademie für Theater und Film in Budapest, wo er von 2007–2017 auch unterrichtete. Seit 2014 arbeitet er als Theaterregisseur und Autor vorrangig im deutschsprachigen Raum, u. a, am Deutschen Theater Berlin, am Theater Basel und am Schauspielhaus Graz. In Ungarn inszeniert er am Katona József Theater und 2021 zum ersten Mal an der Ungarischen Staatsoper. In dieser Spielzeit wird András Dömötör ODE von Thomas Melle im Kasino des Burgtheaters inszenieren.