Schreibweisen #4: Man braucht kein Unbewusstes mehr, wenn man einen solchen Nachbarn hat
Wir haben Daniel Kehlmann gebeten, über sein Stück NEBENAN zu schreiben – und über dessen Weg von der Leinwand auf die Bühne.
NEBENAN, in der Regie von Martin Kušej, feiert am 15. Oktober 2022 im Burgtheater Premiere.
Wenn du Schriftsteller bist, werden dir ständig Ideen für Geschichten erzählt. Das gehört zum Beruf. Viele davon sind sehr gut. Aber auch die kann man normalerweise nicht verwenden – also: man könnte vielleicht, aber ich kann es nicht. Eine Idee, aus der ich als Schriftsteller etwas machen soll, muss sehr mit mir selbst zu tun haben, sie muss etwas tief in mir ansprechen, sie muss Resonanz finden in – ich fürchte, das richtige Wort ist: in meinem Unterbewussten. Solche Ideen muss ich eigentlich selbst finden. Es wäre schön, wenn ich sie einfach von anderen geliefert bekäme, aber es passiert so gut wie nie. Aber einmal ist es mir doch passiert.
Und zwar im Frühsommer 2018, als mein Freund Daniel Brühl zu mir sagte: „Ich habe eine Idee, willst du sie hören?“ In wohlgeübter Skepsis nickte ich, und immer weniger skeptisch lauschte ich, als er von einem Nachbarn in Barcelona sprach, mit dem er sich in einer Bar in eine endlose, ermüdende, feindselige Unterhaltung verwickelt hatte, einem Nachbarn, der Daniels Filme kannte und sich von Daniels Erscheinung, seiner Persönlichkeit, seiner Anwesenheit im gemeinsamen Wohnhaus belästigt fühlte, kurz: ein Nachbar, der den Filmstar Daniel Brühl zutiefst nicht mochte und die Gelegenheit ergriff, ihm das mitzuteilen.
Und ich, plötzlich aufgeregt, wach und elektrisiert, rief mit einer Intensität, die wohl auch Daniel überraschte: „Aber das müssen wir machen!“
Wenn aber nun dieser Mann ihm nicht einfach nur etwas mitgeteilt hätte, sagte Daniel nachdenklich, was dann? Wenn er tatsächlich ein Feind gewesen wäre, jemand der mit Aufwand und Schlauheit seine Zerstörung geplant hätte, wäre das nicht eine Geschichte, die man erzählen müsste?
Und ich, plötzlich aufgeregt, wach und elektrisiert, rief mit einer Intensität, die wohl auch Daniel überraschte: „Aber das müssen wir machen!“
Und so entstand in den heißen Sommerwochen darauf ein Drehbuch. Die Geschichte verlagerte sich von Barcelona nach Berlin, wo nicht nur der normale Prozess der Gentrification abläuft, wie wir ihn in allen großen Städten erleben, sondern wo auch noch dadurch, dass ein politisches System eben erst ein anderes abgelöst hat, die Spannungen zwischen denen, die schon da gewesen, und denen, die nachgekommen sind, um ein Vielfaches reicher, schlimmer komplizierter sind. Und nicht zufällig auch ist Berlin ja die Stadt, in der wir beide, Daniel und ich, als Zugereiste leben.
Daniel ermutigte mich, ihn selbst zu verwenden und eine literarische Figur zu gestalten, die auf so zudringliche Weise an ihm orientiert war, wie ich es normalerweise nie gewagt hätte. Bis heute bin ich sprachlos vor Bewunderung über diesen Mut und auch über die Gelassenheit der Marvel-Studios, die sich nie bei ihrem Star über all den Spott beschwert haben, den sie von Nachbar Bruno abbekommen. Und Daniel inszenierte den Film dann auch in Personalunion als Regisseur und Hauptdarsteller, während ich im Sommer der Pandemie in den USA festsaß und die ersten Wochen nur voll Bewunderung digital mitverfolgen konnte, was da entstand. Es wurde ein Film über die tief zerrissene Stadt Berlin, aber mehr noch, über die Geheimnisse, die jeder von uns mit sich trägt, sodass dieser gesammelte Geheimnisballast eigentlich erst unser Leben ausmacht.
„Das Duell der Bewusstseine nicht zwischen Herr und Knecht, sondern zwischen Topdog-Nachbar und Underdog-Nachbar“, schrieb mir Peter Sloterdijk nach dem Kinobesuch. „Man braucht kein Unbewusstes mehr, wenn man einen solchen Nachbarn hat.“ Wer aber Schlechtes über den Film sagen wollte, und einige wollen ja immer, der fragte damals sogleich: „Ja, aber ist das nicht eigentlich ein Theaterstück?“ Ich gebe gern zu, das ist es. Ich glaube nicht, dass es gegen einen Film spricht, wenn er eigentlich Theater ist, aber es freut mich nun doch, dass der Stoff dorthin zurückkehrt, wo er vielleicht in gewisser Weise auch zu Hause ist – auf eine Bühne.
Zum ersten Mal sind sie einander auf der Leinwand begegnet, zum zweiten Mal geschieht es nun im Burgtheater; ich freue mich darauf, sie ihren Kampf hier weiterführen zu sehen.
Natürlich musste dafür einiges geändert, angepasst, adaptiert, vor allem: konzentriert werden. Im Film verlassen wir mehrmals die düstere Kneipe, im Theater aber würde solch ein Ausflug ans Tageslicht nur stören: Die Geschichte ereignet sich hier in reiner Gegenwart nach den Einheiten des Aristoteles, ohne Zeitsprung, ohne Wechsel des Schauplatzes, des Personals. Und vergessen wir nicht, es bleibt eine Geschichte über einen Schauspieler bei, oder eigentlich: vor der Arbeit – wir sehen einen, der sich immer wieder selbst beim Spielen spielt, und wir sehen einen anderen, der ihn dabei gnadenlos manipuliert. Diese beiden, der Star und der Verlierer, sie stehen einander in unversöhnlichem Gegensatz gegenüber und schlagen alle Möglichkeiten zur Freundschaft, die ihr Autor ihnen anzubieten scheint, hartnäckig aus. Zum ersten Mal sind sie einander auf der Leinwand begegnet, zum zweiten Mal geschieht es nun im Burgtheater; ich freue mich darauf, sie ihren Kampf hier weiterführen zu sehen.
Daniel Kehlmann
1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich- Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman „Die Vermessung der Welt“ ist zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit geworden, und auch sein Roman „Tyll“ stand monatelang auf der Bestsellerliste, schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize 2020 und begeistert Leser*innen im In- und Ausland. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.