Nur Mut kann die Mauer der Angst durchbrechen
Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens auf, Ihr Haus ist umstellt und die Polizei macht sich an der Eingangstür zu schaffen. Angsterfüllt stehen Sie auf. Doch noch ehe Sie die Tür öffnen können, wird diese aufgebrochen. Männer mit Skimasken betreten die Wohnung. Sie drücken Sie zu Boden, legen Ihnen von hinten Handschellen an. Sie stürzen das Bücherregal um und fangen an zu suchen. Sie verbinden Ihnen die Augen und bringen Sie an einen unbekannten Ort. Es gibt kein Gesetz, keinen Gott, der Sie schützen könnte …
Klingt nach einer Szene aus einem Horrorfilm, nicht wahr? Keinesfalls. In manchen Ländern ist dies täglich gelebte Realität. „Solche Länder sind weit von uns entfernt“, sagen Sie? Bei Ihnen kommt so etwas nicht vor, denken Sie? Denken Sie noch einmal nach, überlegen Sie noch einmal, denn es ist keineswegs klar. Es passiert nicht unmittelbar. Es ist wie mit der Geschichte vom Frosch, der in einem Kessel voll Wasser langsam erhitzt wird. Langsam gewöhnt man sich daran. Wenn Sie merken, dass das Wasser zu kochen beginnt, ist es schon zu spät. Dies geschieht seit vielen Jahren in vielen Teilen der Welt. Europa weiß das, interessiert sich aber nicht sehr dafür, was in der undemokratischen Welt vor sich geht. Mit der Globalisierung hat sich vieles verändert. Ein zerstörter Regenwald in Brasilien hat Auswirkungen auf den Regen in Berlin, ein Virus aus China, der über die Welt fegt, eine in Afghanistan verwurzelte Organisation oder ein Bürgerkrieg, der in Syrien begann, haben unmittelbare Konsequenzen für die Welt. Manchmal stürzen die als unzerstörbar geltenden Türme ein, manchmal werden die als unüberwindlich geltenden Mauern überwunden und ein gewaltiger Migrationssturm setzt ein. Angst erobert die Welt. Und autoritäre Führer nutzen diese Angst als Sprungbrett zur eigenen Macht.
So funktioniert die Falle: Zuerst kommt die Einschüchterung. Im Deutschland der 30er Jahre lautete die Schreckensnachricht: „Die Juden kommen.“ Im Amerika der 50er hieß es: „Die Kommunisten kommen.“ Der heutige Horrorsatz geht so: „Die Flüchtlinge kommen.“ Die westliche Hemisphäre befürchtet, dass „der Islam kommt“, während islamische Länder „der Islam verschwindet“ sagen. Die Begriffe ändern sich, die Länder ändern sich. Was immer bleibt, sind die Ängste. Die Angst zerstört unser Wesen. Wenn wir allein sind, ohne Organisation, allein in einem Sturm, dann brauchen wir Schutz. Und oft suchen wir Zuflucht in dem, was uns Angst macht. Wie Opfer, die sich in ihre Messer verliebt haben. Dann werden wir langsam aufgefordert, unsere Freiheiten aufzugeben. Wenn wir einfach ganz entspannt die Straße hinunterlaufen wollen, sollten wir doch nichts dagegen haben, dass an jeder Straßenecke ein Polizist steht, oder? Oder eine Überwachungskamera? Und wenn jemand das kritisiert … dient er vielleicht unseren Feinden? So fängt er an zu kochen, der Kessel des Autoritarismus. Die Welt ist voll von autoritären Führern, die Dank unserer Ängste an die Macht kommen und dann ihre Macht durchsetzen, indem sie den Massen, die sie verängstigen, sagen „Habt keine Angst, wir sind da.“ Die schwachen Demokratien in Süd- und Mittelamerika, auf dem Balkan, im Nahen und Fernen Osten, die kaum noch eine Chance hatten, verwandelten sich nach und nach in totalitäre Staaten. Jetzt ist Europa an der Reihe: Von Polen bis Ungarn, von Deutschland bis Österreich hören wir ihre Stimmen aus allen Ecken: Sorge, Angst, Schrecken, Populismus … Es gibt nur eine Rettung: keine Angst zu haben. Ich werde Ihnen eine Geschichte von Furchtlosigkeit erzählen, die mir passiert ist: Vor vier Jahren erreichte einiges Videomaterial die von mir damals geleitete Zeitung. Der Geheimdienst der Regierung schmuggelte Waffen an islamistische Milizen. Sie hatten Munition unter Kisten mit medizinischen Gütern versteckt. Es war eine illegale Operation und die Bilder waren unmissverständlich. Egal, welche Nachrichten Sie auch immer in meinem Land verbreiten, es ist von vornherein klar, was mit Ihnen passieren wird. „Sie werden getötet, wenn Sie diesen Satz schreiben.“ „Wenn Sie diese Karikatur veröffentlichen, werden Sie ins Gefängnis kommen.“. „Wenn Sie diese Schlagzeile publizieren, wird auf Ihre Zeitung ein Bombenanschlag erfolgen.“
Es steht Ihr Gewissen gegen Ihre Ängste … Würden Sie dieses Risiko eingehen? Oder „Warum sollte ich es riskieren?“, würden Sie sich fragen. „Ist es das wert?“
Tatsächlich haben wir sechs Autor*innen unserer Zeitung durch Attentate und Bombenanschläge verloren. Jeden Tag betraten wir die Zeitung und gingen an ihren Fotos vorbei. Ihre Fotografien haben uns sowohl an das Risiko des Berufs als auch an die Verantwortung erinnert, die wir tragen. Der Beruf, den wir gewählt haben, hat uns die Verantwortung gegeben, Risiken einzugehen. Wir haben immer gesagt: „Jemand, der das nicht will, sollte diesen Beruf nicht ergreifen.“ Wir haben uns versammelt und über die Risiken gesprochen: Unsere Häuser werden überfallen, Männer in Skimasken werden kommen und unsere Bibliothek plündern. Sie werden uns mitnehmen. Wir wissen nicht, wie lange wir im Gefängnis bleiben werden.
Denken Sie jetzt einen Moment nach: Was würden Sie in einer solchen Situation tun? Einerseits sind da die Informationen, die die Öffentlichkeit erfahren sollte, andererseits ist da die Gefahr, ins Gefängnis zu gehen – auf der einen Seite Ihr Beruf, auf der anderen Ihre Zukunft. Ihre Zeitung hier, Ihre Familie da. Es steht Ihr Gewissen gegen Ihre Ängste … Würden Sie dieses Risiko eingehen? Oder „Warum sollte ich es riskieren?“, würden Sie sich fragen. „Ist es das wert?“ Und hier sind die Bausteine totalitärer Regime: „Warum sollte ich das Risiko eingehen?“ Sie stapeln sie aufeinander und bauen eine Angstmauer. Eine Mauer, die uns mit unseren Ängsten gefangen hält. Wir glauben, dass wir dahinter geschützt sind, jedoch sind wir darin versklavt. Zurück zu unserer Besprechung: Das gesamte Redaktionsteam sagte: „Lasst es uns veröffentlichen.“ Am nächsten Tag brachten wir die Neuigkeiten in die Schlagzeilen. Der Führer konnte nicht leugnen, er sagte einfach: „Es war ein Staatsgeheimnis.“ Und: „Sie werden einen hohen Preis für die Veröffentlichung zahlen.“
Nach einiger Zeit erhielten alle Journalisten der Redaktion, auch ich, eine Einladung von der Staatsanwaltschaft. Einige von uns wurden direkt dort festgenommen, einige unserer Wohnungen wurden von Männern mit Skimasken durchsucht. Unsere Literatursammlungen wurden überprüft. Wir saßen im Gefängnis fest und wussten nicht, wie lange wir bleiben werden. Das Gefängnis, in dem wir inhaftiert waren, ist das größte Journalistengefängnis der Welt. Damals befanden sich weitere Journalisten aus Russland, China und Saudi-Arabien in türkischen Gefängnissen. Mehr als 50 meiner Kolleg*innen sitzen noch immer in Untersuchungshaft, weil sie Nachrichten geschrieben oder Tweets gepostet haben. Am Ende waren einige von uns sehr lange Zeit im Gefängnis, andere nur für kurze Zeit. Einige von uns mussten ins Exil gehen. Einige erkrankten im Gefängnis. Bedauern wir es? Nein! Wir wissen, dass der Preis des Mutes hoch ist, aber der Schutz der „Festung Demokratie“ erfordert manchmal einen hohen Preis. Wie Sie sehen, wird die Demokratie auf der ganzen Welt immer wieder schwer verwundet. Parteien, Versammlungen, Organisationen, Gewerkschaften gehen durch große Turbulenzen. Massenhafte Fluchtbewegungen erschüttern die Erde ebenso wie die verschwindenden Wälder, schmelzenden Gletscher, die Vandalen, die Häupter abschlagen und die Verrückten, die in unschuldige Menschenansammlungen Feuer werfen. Ein Zusammenleben scheint nicht mehr möglich. Es ist das Zeitalter der menschlichen Dürre. Wenn wir nicht „Stopp“ sagen, ist dies eine anhaltende Dürre, die aus den Furchen kriecht und uns alle unter der Erde begraben wird. Aufgrund dieser Turbulenzen, dieser Dürre, haben immer mehr Menschen angefangen zu glauben, dass Sicherheit wichtiger als Freiheit ist. Dies ist ein Verständnis, das nur den mächtigen Despoten oder denen, die ihnen nacheifern, zugute kommt. Die, die uns führen, sagen: „Das ist alles nicht wichtig, Ihre Sicherheit ist wichtig.“ Sie erzeugen Angst in uns und nehmen uns die Rechte, die wir durch Jahrhunderte hindurch erkämpft haben: die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, das Demonstrationsrecht, die Rechtsstaatlichkeit, den Säkularismus, den Frieden. Der Zwang zur Entscheidung „Freiheit oder Sicherheit“ führt dazu, dass wir beides verlieren. Wir wollen jedoch beides. Um uns aus diesem Zwang, der uns zu begrenzten Entscheidungen verdammt, zu befreien, müssen wir unsere Freiheiten mit Entschlossenheit verteidigen.
Die jüngeren Generationen der westlichen Welt sind in Demokratien aufgewachsen. Für sie ist die Demokratie ein natürlicher Bestandteil des Lebens, ein Recht, das wir einfach haben. Leider ist es nicht so. Demokratie ist keine Kunstblume, sondern ein Rosengarten, der täglich gepflegt werden muss. Diejenigen, die sich darum kümmern, sind die Gärtner*innen, nicht die Wächter*innen. Wir sind es. Jede*r von uns erhebt sich und sagt „Ich lasse es nicht zu. Das ist mein Leben, Freiheit ist meine Wahl. Dieser Planet ist meine Zukunft.“ So ansteckend Angst ist – auch dieser Mut ist ansteckend. Andere werden uns sehen und aufstehen. Unser Planet wird Freiheit, Frieden, Gesundheit und Grün erlangen.
Can Dündar
arbeitet seit über 40 Jahren als Journalist. Er trat 2016 von seinem Posten als Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet zurück, nachdem er wegen seiner Reportage über illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Syrien inhaftiert wurde. Er verbrachte 92 Tage im Gefängnis und wurde später wegen „Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen“ zu 27,5 Jahren Haft verurteilt. Dündar lebt seit 2016 im Exil in Deutschland. Er schreibt unter anderem für DIE ZEIT und veröffentlichte bereits über 40 Bücher. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „International Press Freedom Award“, „Prix Europas Best European Journalist of the Year“ und dem „PEN’s Hermann Kesten Award“.