GRETCHENFRAGE #2: Wie wichtig ist uns Theater?
Achtung – und nicht den Auftritt verpassen, wenn alle hereinströmen und ihre Rolle spielen, kaum wiederzuerkennen hinter den Masken, denn an diesem Abend sind wir wieder im Kostüm, wenn es heißt, Vorhang auf für uns, die wir zusammenkommen, um zu schauen und gesehen zu werden.
Es ist ein uraltes Stück, das auch diesmal so gewesen sein wird, wie es noch nie zuvor war. Versäumen Sie es nicht, denn es wird – wenn überhaupt – im Theater nur geschehen und sonst nirgendwo.
Wir können vorher das Textbuch lesen, können es uns laut vortragen – in verschiedenen Stimmlagen, können auch das Licht ein wenig dämpfen oder die Lampe auf uns richten, mögen den Hund aus dem Zimmer sperren. Die Katze kann bleiben oder auch nicht. Haben Sie das nie probiert. Etwa um zu wissen, was da wirklich steht … Dachte ich mir’s doch! Wer es nicht gemacht hat, kann es ja versuchen. Aber es wird nichts nützen. Oder glaubt irgendwer, es wird die Vorstellung zuhause je wirklich so sein, wie im Theater, wo nichts je wirklich ist? Na, eben!
Wir können auch Videos anklicken und vor dem Bildschirm hocken, dabei die Aufführungen aus anderen Städten vergleichen, darüber zur selben Zeit chatten, denn wir sind überall andernorts und unentwegt unterwegs, sind – Moment, verzeihen Sie, ich muss nur eben eine Kurzmitteilung schreiben – so, wo waren wir noch? Ja genau: Wir sind dort da, wo wir nicht sind …
Sicher gibt es das alles auch schon digital und allzu oft auch noch gratis. Wer will, kann sich trotz Lockdown einloggen und schaltet sich zu, sitzt da vor dem Monitor, sogar interaktiv mit Mikrophon und Kamera. Keine Sorge, die lässt sich weggeben, wenn wir zwischendurch Lust auf etwas ganz Anderes haben. Aber nicht vergessen, sich davor wegzuschalten.
Es sind halt neue Zeiten und vielleicht werden wir uns bald das ganze Repertoire einpflanzen können – mit einem Chip – und so Sie wollen, können Sie dann sogar im Geiste mit auftreten – als Hauptprotagonist. Wenn Sie bitte nur vorher auf o.k. klicken: der Daten wegen.
Oder glaubt irgendwer, es wird die Vorstellung zuhause je wirklich so sein, wie im Theater, wo nichts je wirklich ist?
Wir müssen erfinderisch sein in diesen Tagen, denn die Angst sitzt im Zuschauerraum und mit gutem Grund, denn heute geht es leibhaftig ums Sein oder Nichtsein. Das ist keine bloße Vorstellung. Kein Grund, deshalb ein Theater zu machen, denn das ist kein Spaß, wenn alle im Publikum sich was husten auf die Pandemie. Ist ja klar, wir wollen Jedermann sterben sehen, doch nicht uns, bitte schön. Dantons Tod gerne, doch ohne den eigenen deshalb fürchten zu müssen.
Aber hört das denn nie mehr auf? Ist der Mensch dem Menschen von nun an nur noch ein Virus? Wann werden wir wieder nebeneinandersitzen und nicht mehr sagen, du sollst dem Nächsten misstrauen wie dir selbst?
Da lass ich mich reinstechen, wenn ich mich nicht reinstechen lass, damit das alles endlich aufhört. G‘spritzte müssen wir alle sein. Aber wär’s damit auch schon vorbei? Ist die Pandemie dann aus der Welt? Flüchtlingskinder können wir im Schlamm versinken lassen, aber ein Virus abschieben, geht nicht so einfach. Das mutiert einem unter der Hand.
Nein, das ist keine Aufzeichnung, denn Theater ist das stets Einmalige.
Wer fragt, wann alles wieder heil ist, vergisst, dass es das auch vorher nicht war. Aber gäbe es ohne Theater überhaupt Hoffnung auf Genesung? Theater ist die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Anderen und mit dem, was eigen ist. Ohne Burgtheater wäre es finster um uns. Hier darf ich in einen Spiegel blicken und ein ganzes Land spielt mit.
Da schauen Sie doch! Der Saal wird dunkler und stiller werden alle ringsum. Jetzt fährt der Vorhang hoch. Sehen Sie bloß: Die Bühne quillt über. Ein Funke fliegt auf. Etwas liegt in der Luft und raubt uns den Atem. Nein, das ist keine Aufzeichnung, denn Theater ist das stets Einmalige. Jeder Abend ein Experiment. Das Selbige ist immer anders. Es kann jedes Mal scheitern, doch eben deshalb auch gelingen. Alles kann passieren. Vielleicht finden heute wir alle in eine neue, eine bessere Rolle, auch das Publikum. Ein Stück kommt über uns. Was für ein Theater!
Doron Rabinovici
wurde 1961 in Tel Aviv geboren und ist in Wien aufgewachsen. Er ist Schriftsteller und Historiker, sein Werk umfasst Kurzgeschichten, Romane und wissenschaftliche Beiträge. Für sein Werk wurde er mit dem Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet.