Mittelmeer einst. Mittelmeer heute.
Das Mittelmeer im antiken Griechenland, das Mittelmeer heute. Zu beiden Zeiten ein Ort der Flucht: Ikarus flieht mit Flügeln von der Insel Kreta und stürzt hinab ins Meer. Tausende Jahre später fliehen wieder Kinder, zahlreich, in Booten. The Poetry Project hat in Deutschland mit bisher 700 jungen Kriegsflüchtlingen geschrieben, von denen die meisten 2015/2016 über das Mittelmeer in die Bundesrepublik kamen. Das Projekt verfügt über die aktuell größte literarische Dokumentation dieser jüngsten Massenzuwanderung.
DER EINZIGE SOHN
von Shahzamir Hataki
65 Menschen waren auf dem Boot. / Der Schmuggler deutete auf einen Berg – /
dort ist Griechenland, sagte er. / Das Wasser fiel wie Wände auf uns herab. / Der Motor stoppte. /
Es waren viele Kinder im Boot. / Es kenterte. / Ich kann nicht schwimmen. /
Zwei Minuten blieb ich unter Wasser, / die rote Weste zog mich an die Oberfläche. /
Ich hatte furchtbare Angst. / Es war / sehr kalt. / Alle schrien. Ich auch. Vor mir war ein Kind. /
Ich tröstete es, du musst / nicht weinen, und ich wusste es doch besser. / Eine Mutter ertrank vor / meinen Augen, ihr Kind im Arm. / Zwei Stunden, dann kam das Boot, / uns zu retten. /
Überlebt haben 20 Menschen. / Die kleinen Kinder waren alle tot. / blieben alle im Meer. /
Ein Junge, er war so alt wie ich, / saß neben mir im Rettungsboot. / Er schrie immerfort /
„Mutter, Mutter“. / Ich fragte ihn, warum weinst du? / Er sagte, seine Familie, sieben Menschen, /
sie seien gestorben. / Ich fragte mich, wer hätte meinen / Eltern gesagt, wenn ich im Meer ertrunken wäre?
Ich bin der einzige Sohn. / Ärzte warteten. / Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten. /
Sie bargen nur acht Tote. / Wir Überlebenden kamen ins Krankenhaus.
Acht Tage und acht Nächte habe ich geschlafen. / Und jeder Tag im Krankenhaus kam mir vor wie ein Jahr. /
Als ich losfuhr aus der Türkei, hatte ich 100 Dollar. / Sie gingen im Wasser verloren. /
Am 20. Tag rief ich zu Hause an. / Mutter sagte, warum hast du dich nicht gemeldet? /
IN DER HAND DER FEUERANBETER
von Shahzamir Hataki
Der Ruf erklingt aus der Kehle eines jeden Afghanen. / Ein Sterbender in jeder Ecke dieser Stadt. /
Wenn die Heimat die Mutter ist, ist die Mutter jetzt in der Hand von Bestien. /
Wir hatten eine Armee. Sie ist gefallen unter den Schüssen der Feinde. /
Der Ungeheuer wegen zittern die Mädchen. /
Der Palast und das Parlament sind die Häuser unserer Heimat. /Die Agenten haben beides übernommen. /
Warum liegt unser Schicksal in den Händen dieser Ungeheuer?/
Ein Feuer in jeder Ecke dieser Stadt./ Die Stadt ist in die Hand der Feueranbeter gefallen (Ungläubige). /
Die Gassen voller Blut, das sterbende Kind unter der Mutter begraben. /
Der Talib genießt das Blutvergießen, während sich an seinem Gotteshaus die Leichen türmen. /
Und der Schmerz der Kriegswaisen ist nicht zu lindern./
Entweder Gott ist tot. / Oder der Himmel ist eingestürzt.
Shahzamir Hataki
war 14, als ihn seine Eltern aus Afghanistan fortschickten, um sein Überleben und seine Zukunft zu sichern. Heute ist er 20 und blickt in seinem neuen Gedicht "In der Hand der Feueranbeter" auf die Geschehnisse in Afghanistan heute. Alle Gedichte sind abrufbar unter: www.thepoetryproject.de. Hier lesen Sie einen Auszug.
DAS BURGTHEATERSTUDIO KOMMT IN DIE BEZIRKE.
Die mobile Inszenierung "ICH, IKARUS" kann von Kooperationsschulen und Institutionen gebucht werden: burgtheaterstudio@burgtheater.at