Meine Kämpferin

Meine Großmutter Deborah Fixler Yahalom ist die inspirierendste Person, die ich jemals kennengelernt habe. Charismatisch, frei im Denken, mutig, schön, humorvoll, einfallsreich – um nur einen kleinen Teil ihrer großartigen Eigenschaften zu nennen. Meine Großmutter ist auch schuld daran, dass ich Schauspieler und Regisseur geworden bin. Schließlich war sie es, die mich als Kind zuerst zum Theaterspielen gebracht hat: Wir haben Kostüme, Hüte und Schals aus ihrer Garderobe getragen, Make-up aus ihrem Boudoir aufgelegt und gemeinsame Shows aufgeführt. Sie zog Komödien vor, mit Happy End. Und meistens war sie Regisseurin und Spontanerfinderin des Stücks in Personalunion. Und natürlich spielte sie auch die Hauptrolle. Ich musste mich mit den Nebenrollen und Wasserträgern zufriedengeben.

Sie war eine großartige Geschichtenerzählerin. Was bei ihrem Überleben die größte Rolle gespielt hat, ist schwer zu sagen – Glück, Schicksal oder Gott (an den zu glauben sie niemals aufgehört hat). Eines aber ist unzweifelhaft wahr: Ihr kreativer Instinkt, ihr Humor und ihre Lust am Leben hatten dabei sicher ihre Hand im Spiel. Für mich als privilegiertes Kind, das im halbwegs stabilen, späten 20. Jahrhundert geboren wurde, klang ihr Lebensweg mindestens ebenso abenteuerlich wie Homers „Ilias“ und „Odyssee“ zusammen.

Die Shoah ist für sie, wie für so viele andere, kein datierbarer Zeitpunkt in der Geschichte, sondern ein Zustand, der anhält und andauert.

Sie kam in einem winzigen, jüdischen Dorf in den Karpaten zur Welt, ging durch die Hölle von Auschwitz, von dort nach Schweden, wo sie heiratete und meine Mutter zur Welt brachte. Sie trennte sich von ihrem Mann und reiste ins Heilige Land, machte Karriere, heiratete ein zweites Mal und trennte sich abermals. Später wurde sie stolze Großmutter von vier Jungen. Was soll ich sagen … ihr Leben war ein unfassbares Abenteuer. Mit wachsender Neugier habe ich ihre Geschichten aufgesogen. Aus der Sicht eines Kindes schienen diese von Liebe, Geheimnis, Hoffnung und Verzweiflung, Tod und Horror durchzogenen Geschichten merkwürdige Märchen zu sein. Manchmal war es mir unmöglich, überhaupt zu begreifen, was sie erzählte – auch deshalb, weil es ihr gelang, mir die fürchterlichsten Begegnungen mit dem Tod durch die Blume des Humors und des Charmes zu beschreiben. 

Obwohl es ihr beim Erzählen immer wieder schwerfiel, zu sprechen, immer dann, wenn der Schmerz zu groß wurde, so schien es mir doch, als würde sie kämpfen, um weitererzählen zu können. Ganz so, als hinge ihr Leben davon ab. Als ob sie noch immer um ihr Überleben kämpfen müsste. Um aufs Neue durchzustehen, was doch vor einer langen Zeit bereits geschehen und längst abgeschlossen war. Ich wollte ihr sagen: „Hab keine Angst, Oma, der Alptraum ist vorbei.“ Aber indem ich ihre weiten, offenen Augen beobachtete, ihre Stimme brechen hörte und ihren Körper zittern sah, verstand ich deutlich, dass manche Geschichten nicht mit Abstand erzählt werden können, weil sie nicht der Vergangenheit angehören, sondern einer fortdauernden Gegenwart. Die Shoah ist für sie, wie für so viele andere, kein datierbarer Zeitpunkt in der Geschichte, sondern ein Zustand, der anhält und andauert.


Ich widme diese Aufführung mit Liebe und Dankbarkeit meiner Großmutter Deborah und allen Überlebenden der Shoah, die in einem bestimmten Wortsinne eigentlich nicht überlebt haben – sondern bis heute täglich ihren Kampf austragen müssen, nicht daran zu sterben.

Itay Tiran
Itay Tiran
© Katarina Šoškić

Itay Tiran, geboren 1980 in Petach Tikwa, Israel, ist Schauspieler im Burgtheater-Ensemble und Regisseur. Zuletzt inszenierte er VÖGEL von Wajdi Mouawad im Akademietheater.

 

Mein Kampf

Farce von George Tabori
Regie: Itay Tiran
Mit: Rainer Galke, Markus Hering, Marcel Heuperman, Hanna Hilsdorf, Oliver Nägele, Sylvie Rohrer

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