ÜBER JUNGE FRAUEN UND DIE KUNST RÄUME ZU BESETZEN
Dramaturgin Claudia Kaufmann-Freßner traf Regisseurin Lily Sykes zum Gespräch über Frauenleben, Romantik und ihre Inszenierung STOLZ UND VORURTEIL*(*ODER SO).
Claudia Kaufmann-Freßner: Stolz und Vorurteil gilt als einer der berühmtesten Liebesromane. Tatsächlich sehen wir aber einen erbitterten Überlebenskampf: Neben der großen Liebe zeigt quälendes Scheitern und pragmatische Entscheidungen. Sind wir immer noch so hoffnungslos romantisch, dass wir zu diesem Roman nur das Happy End assozieren?
Lily Sykes: Eine Liebesgeschichte – und wie hier von zwei Menschen, die sich über kunstvolle Wortduelle ineinander verlieben – negiert die Realität der kapitalistischen Struktur unseres Lebens. In der wirklichen Welt sind gesellschaftliche Unterschiede für die meisten Romanzen nur schwer zu überwinden. Geglückte Liebesgeschichten helfen uns, weiterhin an Utopien zu glauben.
Niemand kümmert sich um die Männer, die scheitern.
Das Happy End für Elisabeth und Darcy ist auch durchaus inspirierend: Zwei großartige Charaktere – klug, lustig, prinzipientreu, aber nicht perfekt –, die bereit sind, aus ihren Fehlern zu lernen. Sie machen einiges miteinander durch, bevor sie zusammenkommen. Es ist keine zuckersüße Sichtweise der Romantik – es ist glaubhaft, dass ihre Beziehung funktionieren wird. Denn Jane Austen entlarvt den Mythos der Liebe auf den ersten Blick: Liebe braucht Zeit, und es ist ok, wenn man nicht perfekt ist! Eine wichtige Feststellung zur Einschätzung sexueller Attraktivität in einer optimierungssüchtigen Instagram-Welt.
Hat unser Begriff von Attraktivität an Dimension verloren?
Die sexuelle Befreiung hat, wie der Wirtschaftsliberalismus, Gewinner*innen und Verlierer*innen geschaffen. Zu Austens Zeit war Schönheit einer von vielen Faktoren, die eine Frau attraktiv machten – die anderen waren Integrität, musische Bildung, finanzielle Situation usw. Heute meint Attraktivität meist das Äußere – und zwar bei Frauen und Männern. Jemand wie Herr Collins, eine fast houellebecq‘sche Figur, der es „sowohl an Aussehen als auch an Charme mangelt“, hätte heute sehr geringe Chancen auf eine Partnerin, während damals sein finanzieller und sozialer Status den ästhetischen Mangel kompensierten. Wie der Psychologe Jordan Peterson gesagt hat: „Niemand kümmert sich um die Männer, die scheitern.“
Die wirkliche Herausforderung für junge Schauspielerinnen ist es, gegen Männer zu spielen und sich Raum zu nehmen.
Die Töchter der Bennets müssen sich an der Heiratsbörse an den Mann bringen, doch ihren Kurswert können sie wenig beeinflussen – da zählen Klassenunterschiede und Familienvermögen. Gilt heutzutage die „Stimme des Herzens“?
Nein, ich denke, Kultur, Klasse und Geld sind immer noch extrem wichtige Faktoren, um zu entscheiden, ob eine Beziehung funktioniert oder nicht. Allerdings leben wir heute in der Illusion, dass diese Dinge nicht wichtig sind – das schafft falsche Erwartungen und kann zu Enttäuschungen und Versagensgefühlen führen: Man hält sich für „unliebbar“ und negiert äußere Gegebenheiten. Es gibt hier eine Parallele zum Arbeitsmarkt: Immer mehr Freelancer scheinen für ihren Erfolg ausschließlich selbst verantwortlich. Ebenso für den Misserfolg, der Einfluss der Gesellschaft bleibt außen vor.
Jane Austen zeichnet mit ironischer Präzision das Portrait der englischen upper class um 1800 und berichtet vom Frauenleben dieser Zeit. Weist ihr Frauenbild über diese Zeit hinaus?
Unbedingt! Frauen, die es wagen, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen, wie Elisabeth, werden immer noch stigmatisiert und ausgeschlossen.
Isobel McArthur erzählt Stolz und Vorurteil* (*oder so) aus der Perspektive der Dienstmädchen, die sonst unsichtbar bleiben. Sind Menschen, die ihr Leben den einfachsten Bedürfnissen und intimsten Verrichtungen anderer widmen, heutzutage Vergangenheit?
Wir sind immer noch – oder mehr denn je – abhängig von Menschen, die für sehr wenig Geld Dienstleistungen für uns erbringen. Bei den Reichen erleichtern das fixe Hausmädchen oder die Nanny das Leben, im Mittelstand sind es der Uber-Fahrer, Lieferanten und Fahrradboten, Putzfrauen und 24-Stunden-Betreuerinnen, die unsere Lebensqualität sichern.
Mit ihrer Version für fünf Darstellerinnen gelingt es Isobel McArthur so unterhaltsam wie spielerisch, dem notorischen Mangel an guten Frauenrollen Abhilfe zu schaffen. Jede Schauspielerin verkörpert verschiedene Geschlechter und Lebensalter. Ein charmantes Spiel mit der Wahrnehmung des Publikums, aber auch eine Herausforderung für die Schauspielerinnen und die Regisseurin?
Die wirkliche Herausforderung für junge Schauspielerinnen ist es, gegen Männer zu spielen und sich Raum zu nehmen – sie haben das Gefühl, sich dafür ständig entschuldigen zu müssen. Sie müssen lernen, den Raum zu besetzen, in dem sie sich normalerweise als Betrügerinnen fühlen.
Lily Sykes
geboren 1984 in London. Sie studiert Germanistik und Philosophie in Oxford, sowie bei Philippe Gaulier in Paris. 2007 gründet sie mit Künstlern aus Japan, Deutschland, Österreich, England, den USA und Italien das Internationale Theatre Ensemble Aitherios. Die erste gemeinsame Produktion The Fish is Open reüssiert in ihrer Regie in Berlin, London, Cambridge und im Iran. Seit 2012 arbeitet sie als freie Regisseurin im englisch- und deutschsprachigen Raum.