Editorial #2

von Andreas Karlaganis

von Andreas Karlaganis

Über dem Eingangsportal steht mit goldenen Buchstaben "K & K Hofburgtheater"
© Katarina Šoškić

William Shakespeare war wohl nie in Venedig, bevor er "Othello" und "Der Kaufmann von Venedig" schrieb. Peer Gynts Reise führt zu den Trollen in Norwegens Gebirge. Das Stück entstand während Henrik Ibsens Zeit seines jahrzehntelangen italienischen Exils. Heinrich von Kleist, der heimatlose Preuße, verfasste viele patriotische Schriften und Plädoyers und zog dennoch sein Leben lang durch Europa, auf der Suche nach einem Ort der Gemeinschaft. Er reiste von Frankfurt an der Oder nach Potsdam, Würzburg, Dresden, Königsberg und Paris. Am Thunersee in der Schweiz fand er einmal ein heimatliches Idyll. Dort hatte er gerne ein Feld bebaut, mit einem engen Freund eine Lebenspartnerschaft begründet – eine Gemeinschaft gebildet. Vielleicht, so konnte man sich vorstellen, passierte Kleist auf seinem Weg durch die Schweiz nach Thun zwei Orte, deren Namen er sich merkte: Pfiffikon und Iphikon. Kleists Reise endete nicht am Thunersee, sondern am Berliner Wannsee, mit einem Schuss in den Mund.

Die Definition von Nation aus dem Wörterbuch ist eindeutig:

Nation ist eine „große, meist geschlossen siedelnde Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur, die ein politisches Staatswesen bilden"

In den Dramen Shakespeares, Ibsens und Kleists ist das weniger klar. Die dichterischen Landkarten unterlaufen und relativieren die gängige Nationalgeographie. Sollte man Dramatikern nicht trauen, wenn sie von Städten, Orten und Nationen schreiben, oder den Wörterbüchern? Seit dem 19. Jahrhundert herrscht die Vorstellung, die deutsche Geschichte beginne mit der Schlacht im Teutoburger Wald, und Hermann sei der erste historisch fassbare Deutsche. Mitten in diesem Wald ragt sein gewaltiges Monument. Heinrich von Kleists Die Hermannsschlacht spielt also im Teutoburger Wald. Das Drama entstand zwei Jahre vor Kleists Tod, auf dem Höhepunkt der Nationenbildung, inmitten eines kriegsverwüsteten europäischen Kontinents. Der Wald der Cherusker liegt jenseits der Zone der römischen Zivilisation. Er ist ein Ort des Unheils. Im Zentrum der Dunkelheit regiert Hermann, der Fürst der Cherusker, der die Gemeinschaft mit nihilistischer Kraft zusammenhält und mit ihrem Hass eine Nation begründet. Hermann lockt seinen römischen Feind in den Wald und überlistet ihn. Unterwegs nach Iphikon kommt der Feldherr Varus vom Weg ab. Seine cheruskischen Begleiter führen ihn nach Pfiffikon, weil sie den Römer angeblich falsch verstehen. Im Herzen des Teutoburger Walds verliert Varus die Orientierung, der Sinn der Sprache verlässt ihn, im Netz der Wörter weiß er nicht mehr, wo er ist und wer er ist. In diesem Augenblick trifft er eine Alraune und fragt diese:

Wo komm’ ich her? – Wohin wandr’ ich? – Wo bin ich?

Die Alraune antwortet: Aus Nichts.Ins Nichts.Zwei Schritt vom Grab. Hart zwischen Nichts und Nichts.

Kleists „politisches Staatswesen“ führt auf dem Pfad zwischen Iphikon und Pfiffikon ins „Nichts“.

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Burgtheater-Magazin #2: Nation

Womit Sie die Stunden verbringen können, die Sie nicht im Theater sitzen.
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