Editorial #12
von Alexander Kerlin (Dramaturgie)
Liebes Publikum!
Die neue Saison des Burgtheaters beginnt, und wir laden Sie ein, sich von uns begeistern zu lassen – im doppelten Wortsinn. Natürlich wollen wir Ihnen viele beflügelnde Theatererlebnisse schenken; zugleich jedoch ahnen wir: Krisenzeiten sind Geisterzeiten, und deshalb werden wir für Sie in dieser Spielzeit die Geister von der Leine lassen, die sie fesseln werden: begeistern eben. Engel und Feen, Dämonen und Untote, Gespenster und Wiedergänger aus der Vergangenheit; Zeugen eines Anderswo und Wann-Anders, die mehr wissen, als wir.
Die Geister sind unter uns! Die Wiener Fotografin Anna Breit hat das wörtlich genommen. Einen Tag lang ist sie tief hinabgestiegen und war in den drei Kelleretagen unter dem Burgtheater unterwegs. Endlose Gänge, zahllose Lagerräume und Technik, Fundamente, die zum Teil bis ins Mittelalter zurückgehen. In Breits Fotoserie sind die Katakomben des Theaters als nahezu undurchdringliches Dunkel präsent, gegen das sich reflektierende Kleidungsstücke abheben. Vom Blitzlicht ihrer analogen Leica M6-Kamera aus der Finsternis herausgestanzt, erscheinen die Kleider wie leere, schwebende Gefäße für die kommenden Geister.
Was erwartet Sie noch in diesem Heft? Die Autorin Marlene Streeruwitz erzählt in einer komisch-tragischen Kurzgeschichte, die sie eigens für dieses Heft geschrieben hat, vom Besuch eines toten Mannes im Wohnzimmer seiner Frau während des Lockdowns. Die Regisseurin Barbara Frey begibt sich gemeinsam mit der bildenden Künstlerin Katharina Fritsch auf politische Seelen-Spurensuche in Arthur Schnitzlers DAS WEITE LAND. Und die Künstlerin Michaela Melián hat sich auf den Proben zu INGOLSTADT von Marieluise Fleißer zu einer Zeichnung inspirieren lassen, die das Bühnenbild der Inszenierung mit den realen Orten Ingolstadt und Hallein (wo die Premiere bei den Salzburger Festspielen stattfand) verbindet.
Darüber hinaus verrät der Musiker Alva Noto in seiner Playlist, welche Tracks ihm bei der Komposition der Musik zu REICH DES TODES Pate standen, erzählt Daniel Kehlmann in der Kategorie Schreibweisen von seiner Arbeit an NEBENAN, beantwortet die Wiener Rapperin und Poetry-Slammerin Yasmo Fragen zu ihrem Vorstellungsbesuch bei CYRANO DE BERGERAC und teilt die britische Autorin Suzanne Andrade in ihrem Brief aus London mit, was sie während ihrer Arbeit an dem Familienstück MEHR ALS ALLES AUF DER WELT bewegt hat.
Brauchen wir eigentlich einen besonderen Gemütszustand, um zu vernehmen, was die Geister uns zu sagen haben? Thomas Bernhard sagt in seiner Erzählung „Amras”: „Wir horchten stundenlang an den entferntesten Ufern ... wir hörten das Gemisch aller möglichen Sprachen ... in einem bestimmten Verhältnis unserer Schläfenknochen zum Erdmittelpunkt.” Aber: „Das Phantastische enthüllte uns alles sekundenlang nur, um es wieder für sich zu verfinstern." Die Geister erscheinen also nur kurz, sie fordern deshalb unsere Sinne aufs Äußerste, sie sind nur ein Hauch und wirken dennoch: zwischen den Zeilen, entlang der Anverwandlungen und Nuancen der Schauspieler*innen, und sie flüstern aus den Fundamenten der Theaterarchitektur zu uns hinauf.
Wir freuen uns auf Sie, liebes Publikum – auf eine geistreiche Saison!
Anna Breit
von der das Cover und Fotos stammen, ist eine in Wien und Paris lebende Fotografin. Sie arbeitet ausschließlich analog und meist mit der Leica M6 ihres verstorbenen Großvaters. Für dieses Magazin hat sie sich im Burgtheater auf Geistersuche begeben. annabreit.com