Die zwei Körper des Königs
Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Joseph Vogl arbeitet zu politischer Souveränität, erforscht die Weisen, in denen über Macht und Herrschaft gesprochen wird und wie diese begründet werden. Im Gespräch über Pedro Calderón de la Barcas DAS LEBEN EIN TRAUM, das in der Inszenierung von Martin Kušej die neue Spielzeit am Burgtheater eröffnet, äußert er sich zum Zusammenhang von Körper, Wissen und Herrschaft. Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus dem Gespräch, das in voller Länge im Programmheft zur Inszenierung abgedruckt ist.
Joseph Vogl: Calderóns Stück steht in einer langen theatralen und politischen Tradition, in der sich ein Herrscher mit einem Orakel konfrontiert sieht – das spielt bei Ödipus oder in Schillers Wallenstein und in vielen anderen Dramen eine zentrale Rolle. Dabei ist die Frage nach der politischen Macht immer auf die Spitze gestellt, denn durch das Orakel, durch die Vorhersage, durch die Bestimmung des Geschicks sieht sich Herrschaft in Zweifel gezogen. Ödipus versucht verzweifelt, durch die Befragung des Orakels, durch die Befragung aller möglichen Instanzen, die Macht zurückzugewinnen. Wallenstein verliert seine Macht, weil er aufgrund der Vorhersagen seines Astrologen zu zaudern beginnt. Basilius, der König in Calderóns Drama, entscheidet sich dagegen für die probeweise Erfüllung des Orakels, das Schreckliches für seinen Sohn Sigismund vorhergesagt hat: Er lässt ihn für einen Tag den Thron besteigen, um das Geschick, die Determination wieder in die eigene Hand zu bekommen.
Sebastian Huber: Das Experiment, das König Basilius anstellt, indem er Sigismund aus dem Kerker holt und auf den Thron setzt, zielt demzufolge auf die Frage, ob der Mensch zu einem anderen als dem ihm vorausbestimmten Handeln fähig ist, ob er sich von seinem Schicksal befreien, über sein Schicksal hinausgehen kann.
Wie verhält sich der irdische, der gebrechliche, der sterbliche Leib des Königs zur ewigen Institution des Königtums?
Joseph Vogl: Die Frage der Macht entscheidet sich an zwei wesentlichen Punkten. Den einen habe ich gerade genannt: die Bestimmung über die Zukunft. Souverän ist, wer sich die Zeit unterwirft. Souverän ist, wer sich die Zukunft unterwirft. Das ist ein ganz elementares Projekt der Herrschaftssicherung. Und daraus ergibt sich zweitens ein grundlegender Zusammenhang von Souveränität und Wissen. Basilius setzt einen ganzen Apparat von Wissensformen ein – Mathematik, Astrologie, Astronomie etc., um mit dem Wissen über den Kosmos das eigene politische Geschick bestimmen zu können. Nun hat in der Tradition, vor der das Stück entsteht, die Frage nach dem Geschick meist tragische Lösungen gefunden. In diesen Geschichten arbeitet das Schicksal gegen den Wissenden. Ödipus ermittelt in letzter Konsequenz gegen sich selbst. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dem Entschluss des Basilius, Sigismund zum König auf Bewährung zu machen, um einen eigentümlich rationalen Versuch zur Entschärfung einer möglichen Tragödie. Er lässt auf der Bühne politisches Probehandeln vorführen, einen politischen Laborversuch. Basilius sagt im Grunde: Weder werden wir uns unserem Schicksal einfach ergeben, noch werden wir uns ihm in einer tragischen Konfrontation entgegenstellen, sondern wir suchen eine gewissermaßen zivile, bürokratische, wissenschaftliche Lösung, indem wir ein politisches Experiment durchführen, das unter Überwachung vor sich geht und kontrolliert werden kann.
Wenn Sie so wollen, ist das ein Problem von Politik seither: angesichts uneindeutiger, ungewisser, möglicher, vielleicht wahrscheinlicher, jedenfalls aber unbestimmter Zukünfte Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln. Das haben wir in den letzten pandemischen Monaten mit besonderer Deutlichkeit beobachten können, samt aller damit verbundenen Dispute und Auseinandersetzungen. Und es hat in unserem Fall wohl zu interessanten Verschiebungen in den Kompetenzverhältnissen zwischen Wissenschaft und Politik geführt. Aber schon in Calderóns Stück wird das Verhältnis von Wissen und Politik als akutes politisches Problem verhandelt.
Sebastian Huber: Ein wesentliches Motiv für Basilius, das Experiment durchzuführen, besteht darin, dass er überprüfen möchte, ob sein bisheriges Handeln gegenüber seinem Sohn ungerechtfertigt war. Ihn plagen Zweifel, ob er, indem er die Tyrannenherrschaft seines Sohnes zu verhindern suchte, seinem Sohn gegenüber selbst tyrannisch handelt.
Joseph Vogl: Ja, die Frage der Tyrannei ist zentral. Als Tyrannei oder Despotie, einmal ist sogar vom „tyrannischen Despoten“ die Rede, gilt in diesem Stück die Durchsetzung einer deterministisch organisierten Politik durch straffe und ununterbrochene Befehlsketten. Mit der Begrenzung oder Selbstzurücknahme des Tyrannen werden umgekehrt Sollbruchstellen eingestanden, Spielräume eröffnet, in denen sich das Geschehen verzweigen kann, Alternativen, Zufälle und Risiken eingeschlossen. Das führt zurück zum Verhältnis der Politik zur Zeit. Tyrannisch ist eine Politik, die sich die Kräfte der Zeit unterwirft, die politische Welt ist dann sozusagen zum Kristall erstarrt – sie ist auf innere Ewigkeit angelegt. Die Grenze des Tyrannischen liegt demgegenüber im Eingeständnis von Endlichkeit, die despotische Einheit von Weltzeit und Lebenszeit zerbricht. Nicht von ungefähr wird Basilius am Ende seines Lebens vom Zweifel befallen: Die tyrannische Angst vor Machtverlust wird mit dem Blick auf die eigene Sterblichkeit aufgewogen.
An welchem Punkt geht die Ausübung politischer Macht selbst in Wildnis über?
Sebastian Huber: Gleichzeitig ist doch auffällig, dass Basilius mit einer wichtigen Triebkraft gar nicht zu rechnen scheint, und das ist das Freiheitsbedürfnis.
Joseph Vogl: Man darf nicht vergessen, dass wir uns im Zeitalter des so genannten Absolutismus befinden. Wenige Jahre später wird Thomas Hobbes seinen „Leviathan“ schreiben, in dem er die Frage behandelt, wie sich souveräne Macht formiert, wie sie sich legitimieren und kodieren lässt. Das Staatsverständnis bei Calderón scheint mir mit dem von Hobbes wenigstens verwandt zu sein. Zugespitzt kann man sagen, dass der Staat, der in DAS LEBEN EIN TRAUM auf dem Spiel steht, der Leviathan ist. Wesentlich stärker als die Frage der Freiheit erscheint mir daher die Frage der Machtsicherung zu sein. Und Machtsicherung bedeutet in diesem Verständnis auch Friedenssicherung: die Unterdrückung des sogenannten Pöbels, die Vermeidung des Bürgerkriegs, die Vermeidung eines Schismas zwischen den Mächtigen, also die Vorsorge gegen das, was den Staat ins Wanken bringen könnte – all das rechtfertigt das Herrschaftsmonopol.
In dem Stück herrscht eine eigentümliche Raumordnung mit interessanten Umkehrungen. Da ist am Anfang zunächst die Wildnis, die von der verkleideten Rosaura am Beginn deutlich angesprochen wird. Doch mitten in dieser unwegsamen „wilden Gegend“, diesem Ort der Nicht-Zivilisation befindet sich ein Gefängnis, der Inbegriff der Zähmung. Der zweite Ort der Handlung ist der Palast, und mitten in diesem Schauplatz der höfischen Kultur, der Fesselung, und der Etikette, mitten in diesem Ordnungsraum findet wiederum Sigismunds Entfesselung und „Auswilderung“ statt. Die zentrale Frage des Stücks lässt sich an dieser Raumordnung gut erkennen. Sie lautet: An welchem Punkt geht die Ausübung politischer Macht selbst in Wildnis über?
Sebastian Huber: Im eigentlichen Sinne absolutistisch scheint mir auch die Tatsache zu sein, dass der König als politischer Souverän sich zutraut, seine Nachfolge selbst zu bestimmen. Sollte das Experiment mit Sigismund fehlschlagen, will er von der gottgegebenen genealogischen Nachfolge abweichen und aus eigener Machtvollkommenheit zwei mögliche Prätendenten, nämlich Astolf und Estrella, verheiraten und als Herrscher einsetzen.
Joseph Vogl: An der Frage der Genealogie hängt immer auch die Frage des Interregnums, die Frage also, wie die Stafette der Macht übergeben werden kann. Jeder solche Bruch und jede solche Zäsur markiert einen Gefahrenmoment in der Dauer der politischen Souveränität. Das sind kritische Anschlüsse, der Staat gerät an dieser Stelle immer erneut ins Wanken. Shakespeare erzählt in seinen Königsdramen wieder und wieder davon, und aus seinem Richard III. stammt der passende Ausdruck vom „Wankestaat“. Letztlich wählt das Stück von Calderón auch in dieser Frage die konservative Lösung, indem die Filiation, also die „natürliche“ Erbfolge vom Vater auf den Sohn bevorzugt und damit zum verlässlichen Programm erhoben wird.
Sebastian Huber: Das stimmt, aber es ist eben nicht automatisch verlässlich. Wenn der Körper des Sigismund, der nichts davon weiß, sich plötzlich auf dem Thron wiederfindet, geht die Sache ja spektakulär schief, weil er erst einmal unkontrolliert um sich schlägt, bzw. auf gewalttätige Weise ausprobiert, ob es Grenzen seiner Macht gibt, ob ihm jemand wird Einhalt gebieten können. Und bei aller Gewalttätigkeit hat das als Impuls ja auch etwas zutiefst Verständliches und Bewegendes, wenn er zu seinem Vater sagt: Du hast mir mein Leben gestohlen und das hole ich mir jetzt zurück.
Das hat ja mit unserem modernen „wienerischen“ Verständnis von Traum und Traumdeutung überhaupt nichts zu tun.
Joseph Vogl: Darin zeigt sich, wie sehr die Dramaturgie der „zwei Körper des Königs“ – worüber Ernst Kantorowicz geschrieben hatte – in diesem Stück eine Rolle spielt, also die Frage danach, wie sich der irdische, der gebrechliche, der sterbliche Leib des Königs zur ewigen Institution des Königtums verhält. Im Gefängnis sieht man den irdischen Leib des Sigismund regelrecht verkommen. Er ist geschwächt, leidend, in seinem ersten Monolog wirbt dieser sterbliche Leib um Mitleid und Erbarmen. Die Frage ist also, wie inseriert sich dieser geschundene Leib in den spirituellen Körper, in den Astralleib des Königtums. Wahrscheinlich kommt auf dieser Ebene auch das Bildfeld des Traums, des Lebens als Traum ins Spiel. Das hat ja mit unserem modernen „wienerischen“ Verständnis von Traum und Traumdeutung überhaupt nichts zu tun. Vielmehr scheint es sich genau umgekehrt zu verhalten. Die Wirklichkeit scheint der Ort der ungehemmten Wunscherfüllung zu sein, während der Traum der Ort der Kontrolle und Regelbefolgung ist.
Sebastian Huber: Sie haben die „zwei Körper des Königs“ erwähnt, eine aus dem Mittelalter in die frühe Neuzeit reichende Vorstellung, die besagt, dass der König aus der sterblichen Person einerseits und der politischen, ewigen Institution andererseits bestehe, eine Vorstellung, die im nur scheinbar paradoxen Ausruf „Der König ist tot, es lebe der König“ seine bekannteste Ausformung erfährt. Wenn man die Geschichte Sigismunds als eine Einpassung der Person in den institutionellen Körper beschreibt, dann schildert Shakespeares Drama RICHARD II. (das in der Inszenierung von Johan Simons am 27. November Premiere im Burgtheater haben wird) das Auseinanderfallen dieser beiden Körper. In der berühmten Abdankungsszene im vierten Akt lässt Richard sich einen Spiegel geben, um einen Blick auf die eigene Person zu werfen, die des Königtums entkleidet ist, und sieht – nichts. Daraufhin wirft er den Spiegel zu Boden.
Joseph Vogl: Die Frage nach dem Bildermachen, nach der Repräsentation und damit die Frage auch nach dem Verhältnis von „Bild“ und „Original“ spielt in diesen beiden Stücken eine wichtige Rolle, und selbstverständlich handelt es sich dabei um eine eminent politische Frage. Mit RICHARD II. reichte Shakespeare ja den Beginn der Vorgeschichte zum früher entstandenen RICHARD III. nach, in dem er das innigste Verhältnis zwischen Schurkerei und Politik beschrieben hatte. Man könnte also sagen, dass Richard III. sein Verstellungsspiel vor dem zerbrochenen Spiegel Richards II. entwickelt. Es gelingt ihm, ein Bild der Macht zu zeichnen, in dem sein Buckel, seine Missgestalt verschwunden ist, in dem er – von dem es heißt, er sei schon mit Zähnen zur Welt gekommen – sich als politischer Heilsbringer darstellen kann. Deswegen erscheint mir Ihr Hinweis interessant, dass der Ritus der Abdankung bei Richard II. mit dem Verlust des Spiegelbildes einhergeht. Der Bildverlust bei Richard II. öffnet den Raum zu einer ungehemmten Produktivität im politischen Imaginären bei Richard III. Politische Macht hängt in beiden Fällen am Herstellen von Bildern, an Projektionen. Am Ende der sogenannten Rosenkriege zwischen den Häusern Lancaster und York liegt „das politische Ding“, die Macht, herrenlos herum und wird von Richard III. ergriffen. Diese Herrenlosigkeit, diese Verwaisung der Macht aber beginnt mit Richard II. und der Zerstörung des eigenen Bildes.
Joseph Vogl
geb. 1957, ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Zuletzt erschienen „Das Gespenst des Kapitals“ (2010), „Der Souveränitätseffekt“ (2015) und das „Handbuch Literatur & Ökonomie“ (2019).