AUFWACHEN, BEVOR ES WIEDER FINSTER WIRD
Haltung und Widerstand.
Editorial 2023/24
Vor vielen Jahren nahm ich aus Spaß an einer „alternativen Modeschau“ teil. Als Model, denn damals war ich noch jung und fesch ... Die Veranstaltung war Teil eines Festivals multikultureller Kunstaktionen und fand in einem alten Industriekomplex in Graz statt. Während wir skurrile Kostümkreationen auf einem Laufsteg aus Euro-Paletten präsentierten, lief gleich nebenan auch noch eine alternative Kasperltheater-Vorführung „Für Erwachsene“; insgesamt befanden sich also an die zweihundert Zuschauerinnen und Zuschauer in der Halle. Ich hatte mich mit einem der anderen Models angefreundet, einem Schwarzen jungen Mann, mit dem ich mich über die Kostümauswahl beriet. Er war Student und lebte im Afro-Asiatischen Institut. Insgesamt waren es ruhige, liberale Zeiten. Trotzdem gab es auch damals schon eine neo-faschistische und deutsch-nationale Atmosphäre in der Stadt, die bekannt ist für ihre Burschenschaften und Studentenverbindungen.
An diesem Abend musste ein Trupp rechter Recken aus der Nazi-Skinhead-Szene Wind von der Veranstaltung bekommen haben, denn sie stürmten plötzlich mit Baseball-Schlägern bewaffnet und in schweren Springerstiefeln in die Halle. Weil sie dabei auch das N-Wort brüllten, wurde mir rasch klar, dass sie es direkt auf meinen Freund abgesehen hatten. Es waren sieben Typen und ich dachte, was werden die schon ausrichten, wir sind zweihundert. Nach einer kurzen Rangelei verließen die meisten Anwesenden aber fluchtartig den Saal und es blieb nur eine Handvoll mutiger Menschen übrig, die sich den Neo-Nazis wirklich entgegenstellten. Als klar war, dass wir keine Chance hatten, packte ich meinen Freund und zog ihn durch eine versteckte Öffnung in der Ziegelwand in einen Gang, der uns ins Freie führte. Die Sache ging gut aus – aber die Erinnerung an das Ereignis hat sich in mir eingebrannt. Die Feigheit und Haltungslosigkeit der Kulturinteressierten um uns herum, die in ihrer zigfachen Überlegenheit keine Gemeinsamkeit im Handeln fanden, sondern sich ängstlich davonmachten, als es darum ging, Widerstand zu leisten und dafür etwas zu riskieren, hat mich verstört und verärgert.
Nun stehen wir da, im Jahr 2023 in Österreich, und nur wer ignorant oder blind ist, erkennt nicht, dass wir es mit einer Stimmung, einer politischen Tendenz und demnächst womöglich mit einer Regierung zu tun bekommen könnten, gegen die Haltung und Widerstand aufgebracht werden müssen. Und gerade auf uns künstlerisch Tätige kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Alles, was wir in den letzten vier Jahren in diesem Land an Korruption, Manipulation, Lüge und Hass erleben mussten, weist direkt auf Zustände hin, die wir für überwunden gehalten haben. Wir können und dürfen nicht wegschauen oder uns hinter der Fassade einer unpolitischen Kunst verstecken.
Dafür stehe ich auch in der letzten Spielzeit meiner Direktion am Burgtheater.
Martin Kušej
Zur Spielzeit 2023/24
Zahlreiche Produktionen der nächsten Spielzeit widmen sich daher den demokratiefeindlichen und autoritären Tendenzen in unserer Gesellschaft und handeln von Ausgrenzung und Verletzung der Menschenwürde, Antisemitismus, den Folgen der Klimakrise aber auch von feministischen Weltentwürfen und Möglichkeiten des Widerstands.
Mehr als 400 Jahre nach dessen Uraufführung kann Shakespeares EIN SOMMERNACHTSTRAUM getrost als Stück der Stunde gelesen werden: Shakespeare stellt dem patriarchalen Athen eine Welt fernab festgelegter Identitäten und starrer Herrschaftsstrukturen entgegen und zeigt uns, dass der Mensch nicht abgetrennt von Natur und Tierwelt lebt.
DIE NEBENWIRKUNGEN von Jonathan Spector ist ein so komisches wie tragisches zeitgenössisches Stück, das die Frage nach der Demokratie und ihren Risiken im Rahmen der Elternvertretung in einer Schule beschreibt und zeigt, wie sich unser Umgang miteinander, mit der Wahrheit und mit dem Anspruch auf Mitsprache zunehmend verändert.
DER MENSCHENFEIND handelt von einem Menschenfreund, der es nicht aushält mitanzusehen, wie die Gesellschaft um ihn herum sich zersetzt und verroht. Er wird zur lächerlichen Figur, weil er im einsamen Gegensatz dazu auf Ehrlichkeit, Moral und Respekt beharrt.
In KASPAR untersucht Peter Handke die Macht und Manipulationsgewalt von Sprache, nicht zuletzt im Rückbezug auf die Sprache und das Sprechen der Nationalsozialisten: Überall lauert in den Worten die Gewalt, der Ausschluss des (kulturell) Anderen und der Krieg.
Kein Moment in der europäischen Geschichte ist so prägend für unser Verständnis von Freiheit und Demokratie wie die Französische Revolution. Büchners Drama DANTONS TOD ist eine Auseinandersetzung über die Legitimität von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele vor dem Hintergrund des Blutbads, zu dem diese Revolution ausgeartet ist.
Mit HILDENSAGA. EIN KÖNIGINNENDRAMA von Ferdinand Schmalz und PHÄDRA, IN FLAMMEN von Nino Haratischwili liegen zwei feministische Neudichtungen bekannter europäischer Mythen vor: Wie weit ist man für einen Neuanfang bereit, zu gehen, welche Kompromisse und Opfer nimmt man in Kauf um nicht vom System zerrieben zu werden? In Haratischwilis politischer Tragödie verliebt sich Phädra nicht in ihren Stiefsohn, sondern in die zukünftige Braut ihres Sohnes. Und in der Neuerzählung der Nibelungen von Ferdinand Schmalz nehmen die Heldinnen Brunhild und Kriemhild den Gang des Schicksals in ihre eigenen Hände.
Solastalgia, das neue Stück des österreichischen Dramatikers Thomas Köck, handelt von der schonungslosen Ausnutzung menschlicher Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt und der Naturressourcen in der sterbenden Heimat.
In Goethes humanistischem Drama IPHIGENIE AUF TAURIS ist eine Aussicht auf Versöhnung, Gastfreundschaft und Mündigkeit aus eigener Kraft aufgehoben, die das Stück heute besonders wichtig macht.
Mit ORPHEUS steigt herab hat Tennessee Williams ein zutiefst antirassistisches Stück und einen Klassiker der „female revenge“ geschaffen, der die Mechanismen des Ausschlusses in einer Kleinstadt vorführt.
Franz Kafkas Erzählung DIE VERWANDLUNG handelt von Verstoßung und zunehmender Isolation aus der sozialen Struktur der Familie und fragt, wer als „Insekt“ stigmatisiert und entmenschlicht wird.
CYPRESSENBURG von Golda Barton deutet DER TALISMAN, den Bühnenklassiker von Johann Nestroy über den Aufstieg eines gesellschaftlichen Außenseiters, unerwartet neu.
An HELDENPLATZ schließlich, diesem pièce de réstistance von Thomas Bernhard, das wenige Monate vor dessen Tod anlässlich des 100. Geburtstags des Burgtheaters und 50. Jahrestags von Österreichs „Anschluss an Nazi-Deutschland“ uraufgeführt wurde, kommt man auch, wenn man über den heutigen Zustand Österreichs nachdenkt nicht vorbei.