Anna Gmeyner: Die Reisende
Die österreichische Autorin Anna Gmeyner war Zeit ihres Lebens eine autonome Außenseiterin. Auf ihrem Weg durch Europa war sie wiederholt gezwungen, ihre Arbeit zu beenden. Beinahe wäre ihr Werk in Vergessenheit geraten.
Ein Porträt von Andreas Karlaganis.
Im Oktober 1983 erhielt Lisette Buchholz Post aus New York. Ihr berühmter Verlegerkollege Fritz Helmut Landshoff riet ihr, den Roman Manja für eine Neuauflage zu prüfen. Er stamme von Anna Gmeyner, die auch als Dramatikerin tätig gewesen wäre und mit einem Volksstück namens AUTOMATENBUFETT Anfang der 30er-Jahre in der deutschsprachigen Theaterszene Aufmerksamkeit erregte. Er habe in den letzten Jahren vergeblich Anstrengungen gemacht, ihren Verbleib zu eruieren. Zuletzt habe er sie kurz nach Kriegsausbruch in London getroffen, seitdem habe er nichts über sie erfahren. Buchholz gründete zu dieser Zeit in Mannheim den „persona verlag“ mit dem Ziel, verschollene Exil-Literatur zu veröffentlichen, und hatte Fritz Landshoff um Anregungen gebeten. „Manja“ handelt von fünf Kindern in einer deutschen Stadt der 20er-Jahre, die, in derselben Nacht gezeugt, in unterschiedlichen Welten aufwachsen. Kein Archiv wusste etwas über die Autorin. Auf die Suchannoncen von Lisette Buchholz im „Aufbau“ und der „Association of Jewish Refugees“, meldete sich dann aber eines Tages eine Dame aus Newcastle. Sie sei Eva Ibbottson, Anna Gmeyners Tochter. Die erfolgreiche Kinderbuchautorin bot an, den Kontakt zu ihrer Mutter herzustellen.
Anna Gmeyner kam 1902 in der Wiener Garnisongasse zur Welt. Das Elternhaus war großbürgerlich-liberal, der Vater Anwalt. Der jüdische Hintergrund spielte im Leben der Familie keine bedeutende Rolle. Anna war die älteste von drei Töchtern. Von Kindheit entschlossen, berühmt zu werden, schreibt sie ein Theaterstück und wünscht sich, dass es im Burgtheater aufgeführt wird. Später nutzt sie die Heirat mit einem Biologen zur Flucht aus dem Elternhaus. Im Jahr darauf wird die Tochter Eva geboren. Doch Gmeyner will nicht Hausfrau und Mutter sein. Sie reist nach Berlin und folgt ihrem Mann später nach Schottland, wo er an der Universität eine Stelle erhält. Auf Reisen lernt sie die prekären Arbeitsbedingungen der schottischen Kohlengrubenarbeiter kennen und verfasst das Stück „Heer ohne Helden“, zu dem Hanns Eisler das „Lied der Bergarbeiter“ komponierte. Wieder in Berlin, arbeitet sie als Dramaturgin für Erwin Piscator und war Teil der künstlerischen und politischen Avantgarde. 1931 schrieb sie nach Recherchen in der Berliner Siemensstadt das sozialkritische Zeitstück „Zehn am Fließband“. Ein Jahr später gelang ihr mit „Automatenbüfett“ ein Überraschungserfolg.
Automatenrestaurants waren Gegenentwürfe zu den Kaffeehäusern der Zeit und Vorgänger der Selbstbedienungsrestaurants. Gmeyners Vorbild befand sich an der Berliner Friedrichstraße, doch auch in Wien zogen Lokale wie das Quisisana an der Kärntner Straße Besucher*innen an. Sie versprachen illuminierten großstädtischen Fortschritt. In einem Lokal wie diesem taucht Eva, die Heldin des Stücks auf. Sie ist jung und dennoch erfahren, sie träumt und reflektiert. Sie verkörpert unbedingte Freiheit, was ihr Macht verleiht. Doch bleibt sie eine Fremde und eine Figur des Transits, wie Anna Gmeyner selbst.
Eva, die Heldin des Stücks ist jung und dennoch erfahren, sie träumt und reflektiert. Sie verkörpert unbedingte Freiheit, was ihr Macht verleiht. Doch bleibt sie eine Fremde und eine Figur des Transits, wie Anna Gmeyner selbst.
Nach Aufführungen am Hamburger Thalia Theater, am Theater am Schiffbauerdamm in Berlin und am Schauspielhaus Zürich, wo Therese Giehse die Hauptrolle übernahm, endete mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Anna Gmeyners Theaterkarriere. Seit 1932 schon lebte die Autorin in Frankreich, um u. a. als Drehbuchautorin für Georg Wilhelm Pabsts „Don Quichotte“ mit Schaljapin in der Titelrolle zu arbeiten. In den Pariser Cafés formiert sich eine neue Künstlerszene, Gmeyner schreibt weitere Drehbücher für Pabst, unter anderem für Du haut en bas ... In ihren Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern kreuzen sich Lebenswege, wir blicken auf Konvolute zwischen Zufall und Schicksal, Bedeutung und Vergessenheit.Eines Tages klopft es an der Wohnungstür von Gmeyners Pariser Mansardenzimmer. Ein Herr, der unter ihr wohnt, stellt sich vor und schenkt ihr ein paar Pantoffeln, mit der Bitte, sie doch anzuziehen, wenn sie sich durch das Zimmer bewege. Sein Name sei Dr. Jascha Morduch und er schreibe an einem großen religionsphilosophischen Werk. Morduch wurde Gmeyners zweiter Gatte, das Werk nie vollendet, und der Krieg zwang das Ehepaar zur Flucht nach England. Zurückgezogen in einem Altersheim in York freute sich Gmeyner über den Besuch der Mannheimer Verlegerin und deren Vorhaben, „Manja“ neu zu veröffentlichen. Doch schien sie mit ihrem früheren Leben abgeschlossen zu haben. Sie konnte oder wollte sich an vieles nicht erinnern. Ihre Kindheit in Wien und ihre Zeit als junge Künstlerin in Berlin und Paris hatte sie hinter sich gelassen. Mit ihren großen, intensiv blickenden Augen verabschiedete sie sich mit den Worten: „Ich suche immer noch nach dem Sinn.“