Alles verzerrt, alles ganz freihändig
Max Czollek. Zur Ironie als Stilmittel ästhetischer Kritik bei George Tabori.
MEIN KAMPF wurde 1987, im Jahr meiner Geburt, am 5. Mai, einen Tag vor meinem Geburtstag, uraufgeführt. Und zwar, das wissen Sie vielleicht sogar ohne extra nachzuschauen, im Akademietheater des Wiener Burgtheaters. Das Jahr 1987 ist ein bemerkenswertes Jahr, nicht nur, weil ich damals geboren wurde. 1987 starb beispielsweise ebenfalls Abba Kovner, Anführer der Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO) und Initiator des weitreichendsten Racheplans an Deutschen und Österreicher*innen für den in nationaler Eintracht begangenen Holocaust. Die Gruppe jüdischer Rächer*innen plante damals die Vergiftung der Nürnberger Wasserversorgung. Die reale Brunnenvergiftung also als jüdische Reaktion auf die tödliche antisemitische Fantasie.
Mir Scheint, dass man Kritik nur dann formulieren dürfe, wenn man zugleich eine Lösung bereitstellt.die Suche nach der Lösung ist die Aufgabe, der sich eine demokratisch verfasste Gesellschaft stellen muss. Der Künstler oder die Intellektuelle können nur dabei helfen, die Fragen zu stellen. Und das ist ja nicht nichts.
Aus diesen zufälligen kalendarischen Überschneidungen ließe sich eine Art Staffelübergabe ableiten, wenn es so etwas wirklich gäbe und ich so eingebildet wäre, wie es der Textauftakt nahelegt. Aber jede*r weiß, dass es sich ganz anders verhält: Die Toten leben weiter, in den Texten, die wir schreiben, in den Stücken, die wir inszenieren, in der Art und Weise, wie wir an ihre Gedanken anknüpfen, weiterspinnen an diesem Teppich, den wir Machtkritik nennen könnten und in den wir mit etwas Glück am Ende der Zeit die ganzen alten Herrscher einwickeln werden, um sie in der nächsten Mülltonne zu entsorgen.
Damit bin ich schön im Bild geblieben, sogar mit etwas zeitgeschichtlicher Brisanz, denn die Müllkippenmetapher ist dieses Jahr bereits zu einiger Bekanntheit gelangt. Die Glosse „All cops are berufsunfähig“ stammte von Hengameh Yaghoobifarah, stand im Kontext der Diskussion um Polizeigewalt in Deutschland und löste eine veritable publizistische Krise aus. Sie werden sich Ihren Teil dazu gedacht haben: gelungen oder nicht. Klug oder doof. Vergessen Sie dabei nur nicht, dass nicht jeder Witz von jeder und jedem erzählt oder verstanden werden kann, weil Humor auch immer Ausdruck einer geteilten Welterfahrung ist. Ein Beispiel: Warum nehmen Juden keine Schmerzmittel? – Weil sie Angst haben, dass dann die Schmerzen aufhören könnten. Das gilt selbstverständlich ebenso für das Theater.
Diese spezifische Welterfahrung ist auch für den 1914 geborenen Tabori nicht von der Hand zu weisen. Sein Vater wurde 1944 in Auschwitz umgebracht, seine Mutter und sein Bruder entkamen nur knapp. Da war Tabori bereits in London und arbeitete ab 1941 als Kriegsberichterstatter und auch als Offizier des Nachrichtendienstes der britischen Armee. Nach dem Krieg begann er ernsthaft literarisch zu publizieren, wobei unter ernsthaft viel Surreales, Ironisches und Brutales fällt.
Das Stück MEIN KAMPF erzählt die Geschichte von zwei Juden, die Hitler in einem Männerwohnheim treffen, in dem der Österreicher aus Braunau zu diesem Zeitpunkt lebt und erfolglos versucht, sich eine Existenz als Aquarellmaler aufzubauen. Dabei geht es nicht um die Frage, ob man über Hitler lachen darf. Natürlich darf man, und zwar nicht nur, weil Kurt Tucholsky einmal geschrieben hat, dass Satire alles darf.
Diese Verschiebung auf die Zeit vor der NSDAP-Karriere Hitlers erlaubt Tabori vielmehr das Aufbrechen einer zum Zeitpunkt der Erstaufführung bereits mythologischen Figur, der er gleichsam Fäden an die Arme knüpft und sie für den jüdischen Autor und die jüdischen Figuren tanzen lässt. Und das ist es, was wir auf der Bühne sehen: einen tanzenden Hitler, der sich so bewegt, so versagt, so zweifelt und so aufsteigt, wie der Autor Tabori es will. Und das ist nach allem, was danach kam, zweifelsohne ein Akt der Selbstermächtigung.
Die letzten Jahrzehnte kennen eine Vielzahl solcher kontrafaktischen Erzählungen, die von Lubitschs Film „Sein oder Nicht-Sein“ über Chaplins „Great Dictator“ bis zu Tarantinos „Inglourious Basterds“ reichen. Verlassen wir überdies kurz den Raum jüdischer Gegenerzählungen, öffnet sich das Feld zu Exploitation-Movies, die über den Schrecken und die Gegenwehr gegen die Sklaverei erzählen, den Rape-and-Revenge- Filmen, bei denen zumeist vergewaltigte Frauen Rache nehmen für die Gewalt, die ihnen angetan worden ist, und vielen weiteren Genres und Beispielen, in denen Selbstermächtigung in eine kontrafaktische Erzählung gekleidet wird.
Das Besondere von MEIN KAMPF ist nun allerdings, dass es Taboris Gegenerzählung gar nicht um Rache geht. Sondern, dass er Hitler zu einer jüdischen Kreation macht, einem Menschen, der seine Ideen, seine Rhetorik und seinen Look vollständig dem Juden Schlomo Herzl verdankt, der ihm sogar das Romanskript überlässt, welches den vielsagenden Titel MEIN KAMPF trägt. Das ist witzig. Aber es ist nicht ganz zufällig auch ein Kippbild des ewigen Vorwurfs von Kulturantisemiten wie Richard Wagner, Juden* könnten aus sich heraus keine Kultur schaffen, nur Kultur nachahmen. Der eigentliche Nachahmer ist hier Hitler.
Es geht dieser Kunst also gar nicht um Utopien, sondern um die Darstellung einer Konstellation, die in der Entrüstung des Publikums mündet, dass die Verhältnisse eben sind, wie sie sind.
Im Männerwohnheim scheint alles verzerrt, alles ganz freihändig, ganz ohne Schwere der folgenden Ereignisse. Dabei muss Tabori klar gewesen sein: Das Publikum weiß, was danach in Wirklichkeit passierte. Und dass es folglich auf die Behauptung, Juden hätten Hitler zu dem gemacht, was er ist, nur mit Kopfschütteln reagieren konnte. Die theatrale Verkehrung des historischen Koordinatensystems löst ein Unwohlsein aus, auch bei mir. Ich denke, dass dieses Unwohlsein kalkuliert ist. Denn Tabori geht es hier nicht um eine Utopie des „Ach-wäre-es-doch-anders-gekommen“. Sondern er erzählt das Unwahrscheinlichste, von dem man nicht einmal wünschen kann, dass es wirklich so gewesen sei.
Bei Lesungen meiner politischen Texte erlebe ich immer wieder, dass Menschen mich fragen, was denn nun mein Rezept für eine Lösung der Widersprüche und Schwierigkeiten ist, die ich beschreibe. Die dahinter liegende Annahme, scheint mir, ist, dass man Kritik nur dann formulieren dürfe, wenn man zugleich eine Lösung bereitstellt. Nur gibt es nicht immer eine schnelle Lösung. Oder noch mal anders gesagt: ich glaube, die Suche nach der Lösung ist die Aufgabe, der sich eine demokratisch verfasste Gesellschaft stellen muss. Der Künstler oder die Intellektuelle können nur dabei helfen, die Fragen zu stellen. Und das ist ja nicht nichts.
Bertolt Brecht, mit dem Tabori zusammenarbeitete, lässt sein Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ 1940 entsprechend enden: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“ Was ist das anderes als ein Aufruf ans Publikum, den Faden dort aufzunehmen, wo die Kunst ihn fallen gelassen hat. Es geht dieser Kunst also gar nicht um Utopien, sondern um die Darstellung einer Konstellation, die in der Entrüstung des Publikums mündet, dass die Verhältnisse eben sind, wie sie sind.
Dabei geht es auch um die historische Unmöglichkeit, die vielleicht nur in der Kunst ihren Platz hat, nirgendwo sonst. Um das Bewusstsein, dass die Geschichte einen ganz anderen Lauf genommen hat als dargestellt. Und dass auch die Gegenwart des Publikums sich nicht entsprechend verhält.
Max Czollek
wurde 1987 in Berlin geboren. Er ist Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und Mitherausgeber der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“. Seine Gedichtbände „Druckkammern, Jubeljahre“ und „Grenzwerte“ erschienen im Verlagshaus Berlin. Mit Sasha Marianna Salzmann kuratierte er 2016 den Desintegrationskongress und 2017 die Radikalen Jüdischen Kulturtage am Maxim Gorki Theater. Sein Essay „Desintegriert euch!“ (Hanser 2018) machte als Appell für radikale Vielfalt in einer Zeit des erstarkenden Nationalismus Furore. Diesen Spätsommer ist sein neues Buch erschienen. Der Titel: „Gegenwartsbewältigung“.
KASINO
08. & 11.11.2020
TAGE DER JÜDISCHMUSLIMISCHEN
LEITKULTUR
EIN DEZENTRALES FESTIVAL
IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM
Max Czollek lenkt mit einer Veranstaltungsreihe an über 20 Kulturinstitutionen den Blick auf die radikale Vielfalt, die unsere Gesellschaft heute ausmacht. Der Titel ist irritierend wie die Behauptung Taboris, Juden hätten Hitler erst zum Nazidemagogen gemacht. Auch die Fantasie einer Jüdisch-Muslimischen Leitkultur markiert die Suche nach einer anderen Erzählung. Das Burgtheater beteiligt sich an dieser Suche und widmet einen Kollektivsalon und eine neue Ausgabe von Apropos Gegenwart dem dezentralen Festival.