Büchners Flucht
Auch wenn das Fundstück zu DANTONS TOD nicht dem schmalen Werk Georg Büchners entstammt, so führt es über einen Umweg dennoch zu ihm hin. Präsentiert wird im Folgenden eine 1912 erstveröffentlichte Prosaminiatur des Schweizer Schriftstellers Robert Walser (1878–1956), die eine markante Situation in Büchners Leben aufgreift: Im März 1835 muss der 21-jährige Büchner als Mitverfasser der sozialrevolutionären Flugschrift „Der Hessische Landbote“ von Darmstadt nach Straßburg fliehen. Bei Walser erscheint dieses politisch brisante Ereignis erstaunlicherweise als ein abenteuerliches, fast schon romantisches Erlebnis. Der politische Flüchtling Georg Büchner wird zu einem literarischen Helden, als wäre er dem Stück, das er mit sich führt, entsprungen. DANTONS TOD, „diese Tragödie der Revolutionäre“, die Robert Walser für „genialisch geschildert“ hält, feiert am 16. Dezember 2023 in der Inszenierung von Johan Simons Burgtheater-Premiere.
In der und der geheimnisvollen Nacht, durchzuckt von der häßlichen und entsetzlichen Furcht, durch die Häscher der Polizei arretiert zu werden, entwischte Georg Büchner, der hellblitzende jugendliche Stern am Himmel der deutschen Dichtkunst, den Roheiten, Dummheiten und Gewalttätigkeiten des politischen Gaukelspiels. In der nervösen Eile, die ihn beseelte, um schleunigst fortzukommen, steckte er das Manuskript von „Dantons Tod“ in die Tasche seines weitschweifigen, kühn geschnittenen Studentenrockes, aus welcher es weißlich hervorblitzte. Sturm und Drang fluteten, einem breiten königlichen Strom ähnlich, durch seine Seele; und eine vorher nie gekannte und geahnte Freude bemächtigte sich seines Wesens, als er, indem er mit raschen und großen Schritten auf der mondbeglänzten Landstraße dahinschritt, das weite Land offen vor sich daliegen sah, das die Mitternacht mit ihren großherzigen, wollüstigen Armen umarmte. Deutschland lag sinnlich und natürlich vor ihm, und es fielen dem edlen Jüngling unwillkürlich einige alte schöne Volkslieder ein, deren Wortlaut und Melodie er laut vor sich hersang, als sei er ein unbefangener, munterer Schneider- oder Schustergeselle, befindlich auf nächtlicher Handwerkswanderung. Von Zeit zu Zeit griff er mit der schlanken feinen Hand nach dem dramatischen, nachmals berühmt gewordenen Kunstwerk in der Tasche, um sich zu überzeugen, daß es noch da sei. Und es war noch da, und ein fröhliches, lustsprudelndes Gewaltiges überkam und überrieselte ihn, daß er sich in der Freiheit befand, eben da er in das Kerkerloch des Tyrannen hatte wandern sollen. Schwarze, große, wildzerrissene Wolken verdeckten oft den Mond, als wollten sie ihn einkerkern, oder als wollten sie ihn erdrosseln, aber stets wieder trat er, gleich einem schönen Kind mit neugierigen Augen, aus der Umfinsterung an die Hoheit und an die Freiheit hervor, Strahlen auf die stille Welt niederwerfend. Büchner hätte sich vor lauter wilder, süßer Flüchtlingslust auf die Knie an die Erde werfen und zu Gott beten mögen, doch er tat das in seinen Gedanken ab, und so schnell er laufen konnte, lief er vorwärts, hinter sich das erlebte Gewaltige und vor sich das unbekannte, noch unerlebte Gewaltige, das ihm zu erleben bevorstand. So lief er, und Wind wehte ihm in das schöne Gesicht.
Robert Walser: Büchners Flucht. In: Robert Walser: Aufsätze. Berlin: Suhrkamp 2022 (Werke. Berner Ausgabe, 9), S. 112-113.