Europa der Nationen oder europäische Nationen?

Eine Antwort von Ivan Krastev

Adler
© Vinz Schwarzbauer

Am 11. März 1882, das Zeitalter des Nationalismus hatte seinen Höhepunkt erreicht, hielt der französische Historiker Ernest Renan in Paris, der Hauptstadt des modernen Nationalismus, einen Vortrag unter dem Titel Was ist eine Nation? Er argumentierte, Nation sei weder eine Gruppe, die sich durch eine gemeinsame ethnische Herkunft, Sprache oder Religion definiert, noch eine Gruppe von Menschen, die auf demselben Territorium lebt oder dieselben wirtschaftlichen Interessen teilt. Vielmehr seien es Menschen, die zusammengelebt haben und weiterhin zusammenleben wollen. "Das Dasein einer Nation ist ein tägliches Plebiszit", bemerkte er bekanntermaßen. Das entspricht der politischen Bedeutung der Nation, die durch die Französische Revolution zum Ausdruck gebracht wurde. Aber „Nationen sind nicht ewig.“ Laut Ernest Renan haben sie „einen Anfang und ein Ende. Wahrscheinlich wird eine Europäische Konföderation sie ersetzen.“ Renan stand der Idee der europäischen Nation offen gegenüber.

Aber die Antwort auf die Frage „Was ist eine Nation?“ entspricht nicht der Antwort auf die Frage „Was ist die Bedeutung der Nation?“ Weil die Nation, nicht anders als Gott, ein Schutzschild der Menschheit gegen die Vorstellung der Sterblichkeit ist. Wir hoffen und glauben, dass unsere Familie und unsere Nation noch lange nach unserem Tod erhalten bleibt und dass unsere Sprache die Erinnerung an diejenigen aufrechterhalt, die sie gesprochen haben. Wir glauben, dass der Einzelne sterblich, die Nation aber ewig ist. Die Nation verleiht uns die Illusion der Unsterblichkeit, und deshalb sind wir bereit, oder waren bereit, dafür Opfer zu bringen. „Wenn morgen meine Sprache vergessen sein sollte, bin ich heute bereit zu sterben“, schrieb der awarische Dichter Rassul Gamsatow.

Ivan Krastev

geboren 1965 in Lukovit, Bulgarien, ist Politologe und Autor sowie Vorsitzender des Zentrums für Liberale Strategien, Sofia, und ständiger Mitarbeiter am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (IWM). Er hat den Europäischen Rat für Auslandsbeziehungen (ECFR) mitbegründet und ist Mitglied des Global Advisory Board der Open Society Foundations, New York sowie des Beirats des Centre for European Policy Analysis (CEPA) und der European Cultural Foundation (ECF). Krastev ist Mitherausgeber der Zeitschrift "World’s Europe" und Mitglied des Herausgeberbeirates der Zeitschrift für "Demokratie und Transit – Europäische Revue".

Nationen im Plural stehen nicht nur für unsere Sehnsucht nach Unsterblichkeit, sondern auch für den Reichtum und die Vielfalt der menschlichen Erfahrung. Es gibt ein hebräisches Gebet, das man aussprechen soll, wenn man ein Monster erblickt: „Gesegnet sei der Herr, unser Gott, der die Mannigfaltigkeit unter Seinen Geschöpfen einführt.“ Gesegnet sei Gott, dass wir nicht alle Monster sind.

Im heutigen Europa ist der Begriff der Nation zwischen seiner politischen und seiner metaphysischen Bedeutung zerrissen. Die neuen Nationalismen Europas werden vor allem von demographischen Ängsten angetrieben; von der Angst, dass unsere Gesellschaften altern und schrumpfen werden; von der Angst, dass die Ausländer kommen; von der Erkenntnis, dass „Bäume Wurzeln, aber Menschen Beine haben“. Die bedrohten Mehrheiten – ethnisch- kulturelle Gruppen, die befürchten, dass der demografische Wandel sie von der Macht verdrängt und ihre kulturelle Identität ausloscht – sind zu zentralen Akteuren in der europäischen Politik geworden. Sie halten an der Idee der ethnischen Nation fest, nicht weil sie glauben, dass dies die Zukunft ist, sondern weil sie befürchten, dass die ethnische Nation keine Zukunft hat. Nostalgie, so glaubte Herder, war der nobelste aller Schmerzen. Nation ist heute ein anderer Name für Nostalgie.

Europa im Diskurs – Debating Europe

Seit über zehn Jahren verwandelt die hochkaratig besetzte Gesprächsreihe "Europa im Diskurs" das Burgtheater in eine Agora der Gegenwart. Prominente internationale Gäste aus Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Kunst diskutieren, mitunter kontrovers, brandaktuelle Fragen zur Zukunft Europas. Sie formen den Diskurs, der heute ebenso wie gestern ohne Gegenrede unvorstellbar ist, und unterstützen das Publikum in der eigenen Urteilsfindung. Dieser Originalbeitrag entstand im Rahmen der ersten Ausgabe von "Europa im Diskurs" – Debating Europe in dieser Spielzeit, Burgtheater, ERSTE Stiftung, Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und DER STANDARD

Mehr Informationen
Element 1 von 1

EUROPA IM DISKURS

Die erfolgreiche Debatten-Reihe EUROPA IM DISKURS bringt seit über einem Jahrzehnt führende Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Intellektuelle und Autor*innen auf der Bühne des Burgtheaters zusammen.
Zurück nach oben