DAS DEMOKRATISCHE VERSPRECHEN

Dramaturg Andreas Karlaganis im Gespräch mit Ethel Matala de Mazza.

Mit „Der populäre Pakt“ hat Ethel Matala de Mazza einen faszinierenden Bericht über den Wandel des Theaters zu Beginn der Moderne vorgelegt. Ein Anlass, um über ein Theater der Gegenwart nachzudenken.

Architektur 2021
© Ruiz Cruz

Andreas Karlaganis: Beim Titel Ihres Buchs sticht der Begriff der „Popularität“ ins Auge. Es ist auch ein besetzter Begriff, gerade im Zusammenhang mit Theater. Können Sie beschreiben, wann dieser Begriff „populär“ geworden ist und wie wir ihn heute vielleicht missverstehen?


Ethel Matala: Der heutige Begriff der Popularität zielt auf Beliebtheit und Reichweite, auf eine möglichst große Öffentlichkeit im quantitativen Sinn. Historisch ist mit der Zahlengröße aber auch eine politische Vorgeschichte verbunden. Das wichtigste Stichdatum ist wohl die Französische Revolution. Da hat sich der „populus“ – das breite Volk – mit Gewalt als Machtfaktor durchgesetzt. Seitdem ist Mehrheitsfähigkeit ein Politikum, die Stimmen der Vielen werden gezählt und haben Gewicht. Natürlich lässt Zuspruch sich mittlerweile auch ökonomisch oder algorithmisch messen: an Klicks, Downloads, Bestseller-Charts oder an Kassenrennern. Die braucht das Theater genauso wie das Kino. Kein Haus kann sich leere Ränge leisten. Trotzdem hat Populäres auf der Bühne nicht automatisch eine gute Presse. Wer das Theater als Bastion der Hochkultur versteht, wittert schnell flache Unterhaltung statt Tiefsinn oder Niveau. In meinem Buch hat mich interessiert, dass das populäre Theater nach der Französischen Revolution – und nicht nur in Frankreich – auch ein Labor der Modernität war, ein Theater des Zeitgeists, das sich programmatisch an der Stadt und ihrem Laufpublikum orientierte, nicht am Hof. 

Andreas Karlaganis: Im Zentrum Ihrer Analysen stehen die europäischen Theaterhauptstädte Paris und Wien im 19. Jahrhundert.

Ethel Matala: Genau, politisch waren die Revolutionen in beiden Ländern unterschiedlich erfolgreich. Aber das Stadtbild der Hauptstädte hat sich danach auffallend gewandelt. Große Menschenmengen sollten dort auch räumlich mehr Platz haben. In Paris hat man mit riesigen Festplätzen angefangen. Da sollten Zuschauer*innen zu Akteur*innen werden, sich als Öffentlichkeit selbst wahrnehmen. Noch wichtiger wurden später die großen Boulevards, die schlecht für den Barrikadenbau waren, aber perfekt als Flussbett für herbeiströmende Massen, die ihrer Schau- und Vergnügungslust nachgehen sollten. Dass sich hier besonders viele Theater ansiedelten, mehr als anderswo in Europa, ist kein Zufall. Denn natürlich sollte dieses Publikum auch von den Bühnen angelockt werden. Das gelang aber nur, wenn die Theater wenig Bildungswissen voraussetzten und sich an dem orientierten, was gerade in Mode oder dank der Presse im Tagesgespräch war. Man kann in diesem Bemühen um Barrierefreiheit, um Zugänglichkeit für möglichst viele durchaus den Anspruch eines modernen Volkstheaters erkennen. Ein egalitäres, inklusives Volkstheater, das sich an Zeitgenossen adressierte und mit dem – auch – ein demokratisches Versprechen eingelöst wurde.

Die witzigsten Operetten sind voll mit Anspielungen: auf Zeitthemen, auf Erfolgsstücke von Konkurrenztheatern, auf Redensarten.

Andreas Karlaganis: Dieses Versprechen ging mit dem Akt einer theatralen Übernahme einher: Die Operette bediente sich der höfisch besetzten Oper und sie deutete bestehende Theaterstoffe neu. Im Fall der Lustigen Witwe" überschrieb Lehár beispielsweise LessingsMinna von Barnhelm".


Ethel Matala: Das stimmt, das Plündern von Traditionsbeständen gehörte dazu. Die populären Bühnen waren meist kommerzielle Bühnen und mussten mit ihren Einnahmen wirtschaften. Das Recyceln bekannter Stoffe war eine Chance, möglichst schnell produzieren und im Zweifelsfall im Spielplan umdisponieren zu können, wenn sich Flops einstellten. Anders als im Fall der LUSTIGEN WITWE hatte das auch oft einen parodistischen Zug. Für die Operette lag das Spiel mit geborgten Versatzstücken aber auch deshalb nahe, weil das Genre von vornherein auf Mischungen gesetzt, Tanznummern mit Liedern und Dialogen kombiniert hat und dabei auf den osmotischen Austausch, die Synchronisierung mit der Außenwelt Wert legte. Deshalb nahmen die Operetten gerne auf, was gerade eben jetzt die Welt der Stadt bewegte, an Neuigkeiten die Runde machte oder sich auf anderen Bühnen abspielte. Die witzigsten Operetten sind voll mit Anspielungen: auf Zeitthemen, auf Erfolgsstücke von Konkurrenztheatern, auf Redensarten. Das war ein Gegenwartstheater mit ausgestelltem Aktualitätssinn, das die Zeitgenossenschaft mit dem Stadtpublikum exzessiv ausbeutete, sich auch in den Raum der Stadt hineinspielte. Und das natürlich kräftig an der Legendenbildung über diese Stadt mitwirkte.

Andreas Karlaganis: Damals wie heute erlebte Wien einen starken gesellschaftlichen Wandel, was sich auf die Spielpläne auswirkte.

Ethel Matala: Ja, wobei man, zumindest im 19. Jahrhundert, noch eher auf die Vorstadtbühnen verweisen kann, die ja alles Andere als provinziell waren. Ich denke da vor allem an das Theater an der Wien und das Carltheater, die neben den Lokalpossen auch Melodramen, Spektakelstücke und Vaudevilles auf dem Programm hatten und fleißig importierten, was in Frankreich und England gerade Mode war. Diese „Glokalisierung“ kam beim Publikum übrigens besser an als bei Teilen der damaligen Stadtpresse, in der sich gegen die europäischen Einwanderer ins heimische Volkstheater auch Protest regte. Mit dem Bau der Ringstraße, der Wiener Antwort auf die neuen Pariser Boulevards, ging die Modernisierung aber weiter. Die Vorstadtbühnen zogen mit, auch weil sie neue Konkurrenz bekamen. Also setzte man erst recht auf internationale Trendsetter. So kam Jacques Offenbach nach Wien, war Inbegriff des Pariser Schicks. „Offenbach“ und „Operette“ gehörten hier für geraume Zeit ganz eng zusammen.

Frei und gleich sind alle darin, dass ihr Geschick nicht schon mit ihrer Herkunft besiegelt ist und der Schein ihnen bei ihrem Treiben mehr nützt als ihr Sein.

Andreas Karlaganis: Mit Offenbachs Operetten beschreiben Sie ein positives Beispiel eines „populären Pakts“, es zelebrierte Egalität als demokratische, plurale Verbindung mit den Massen. Sein erfolgreiches Theater war weniger eine kulturindustrielle Ausschlachtung sondern brachte das großstädtische Chaos in eine musikalisch-theatrale Form.

Ethel Matala: Das eine schließt das andere nicht aus. Ums gute Geschäft ging es Offenbach schon auch. Sein erstes Theater hat er am Gelände der ersten Pariser Weltausstellung eröffnet. Das war eine Leistungsschau der Industrie, ein Wallfahrtsort mit Luxusgütern vom ganzen Globus, ein moderner Jahrmarkt. Den Rummelplatz mit seinem Budenzauber haben Komödianten auch schon früher geschätzt, eben weil hier so viel Volk zusammenlief. Das ist auch das Reservoir für Offenbachs Personal, ein Bestiarium von Stadtmenschen, die als Typen, nicht als Individuen auftreten und sich bunt mischen. Die urbane Prägung macht sich auch in ihrer Weltläufigkeit geltend. Da treten lauter ambulante Figuren, Migrant*innen in allen Variationen auf: Leute, die reisen, das Weite suchen, viel herumkommen, dem Alltagstrott entfliehen und am liebsten da sind, wo Verkehr herrscht, wo man mehr Fremden als Bekannten begegnet – in Hotels, auf Bahnhöfen, beim Maskenball. Die Operettenwelt ist eine mobile Welt, in der es rund geht, auch in sozialer Hinsicht, ein dauerndes Auf und Ab. Frei und gleich sind alle darin, dass ihr Geschick nicht schon mit ihrer Herkunft besiegelt ist und der Schein ihnen bei ihrem Treiben mehr nützt als ihr Sein. Die meisten Grafen und Marquis, die sich da tummeln, sind abgebrannt und leben auf Pump. Und die glamourösesten Prinzessinnen sind nie echt.

Andreas Karlaganis: Ausgerechnet im Zusammenhang mit dem kommerziellen Theater jener Zeit beschreiben Sie auch postdramatische Theaterformen, die die Hierarchie des gesprochenen Worts auf der Bühne aufheben und für das heutige Theater stilprägend sind.

Ethel Matala: Im Prinzip ist der Begriff des „Postdramatischen“ irreführend, denn nicht-dramatische Theaterformen sind älter als das Wortdrama, und beim Publikum waren die auch immer beliebter als Literaturdramen. Die Sprechstücke sollten mit ihren Konflikten ja auch besonders realistisch sein: sich linear verwickeln und entwickeln und so auflösen, dass alles mit rechten Dingen zugeht und kein Gott aus der Theatermaschine fürs Happyend noch Wunder wirkt. Dagegen haben die kommerziellen Bühnen gar nicht erst versucht, die Illusion zu erzeugen, es gebe keine Illusion. Hier sollte laufend Wunderbares passieren: durch Abwechslung, Überraschung, durch schnelle Szenenverwandlungen wie von Zauberhand, durch Lied- und Tanznummern mit Einlagencharakter. Das Montieren von disparaten Szenen in Revueformen haben sich die Avantgardisten hier früh abgeschaut.

Andreas Karlaganis: Heutige Theaterschaffende wie Elfriede Jelinek und Frank Castorf arbeiten auch ganz bewusst mit dem Aspekt der Überwältigung: der assoziativen, zirzensischen Überlagerung, der Konfrontation und Verknüpfung sinnlicher Reize. Wohingegen sich in der Zwischenzeit Autor*innen heutiger TV-Serien den vielbeschworenen und am Burgtheater zu Recht noch immer hochgehaltenen dramatischen Erfolgsrezepten kohärenten Storytellings angenommen haben.

Ethel Matala: Sie haben Recht: Das Storytelling hat durch die TV-Serien in der gegenwärtigen Popkultur durchaus Auftrieb, da ist ein eigenes Spielfeld für ein episches Theater entstanden, das sich mit der Tradition des Dramas – anders als Brecht das im Sinn hatte – gut verträgt. Das erklärt aber vielleicht auch, warum das postdramatische Theater daran interessiert ist, die Bühne als Raum und die Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern im Saal anders zu nutzen. Warum es zum Beispiel auslotet, wie es das Publikum physisch und affektiv beanspruchen, auch erschöpfen kann. Und warum dieses Theater die Szene als Spielfeld besetzt, auf dem geturnt, gesungen, gewartet, gealbert werden darf. Artistik und Artifizialität sind dabei immer offensichtlich. Trotzdem entsteht Magie. Dass Genres wie die Operette plötzlich wieder aktuell werden, weil die Lust hier in alle Richtungen spielen und dem Möglichkeitssinn bis zum Unsinn folgen kann, ist ein Begleiteffekt, der beim näheren Hinsehen aber nicht überrascht.

Je weiter sich die Theater hinauslehnen, desto besser. Die Zugluft, die von der Bühne in die Außenwelt weht, ist derzeit ja auch aus anderen Gründen überlebenswichtig.

Andreas Karlaganis: Sie beschreiben den Journalisten Siegfried Kracauer als jemanden, der das Feuilleton ganz prononciert zur philosophischen Gegenwartsreflexion nutzte und über die journalistischen Möglichkeiten hinaustrieb. Die Theater stellen sich angesichts der digitalen Revolution heute die Frage, welches nebst den immer noch sehr bedeutenden Zeitungskritiken weitere Kommunikationsorgane sind, um eine gewandelte, nichtkonforme städtische Bevölkerung zu erreichen?

Ethel Matala: Kracauer hat seine Feuilletons für die „Frankfurter Zeitung" in der Weimarer Republik geschrieben. Unter denen, die damals das Feuilleton prägten – es gab ja eine riesige Zahl von Tageszeitungen, 90 zeitweise allein in Berlin –, war er mit seiner Zeitdiagnostik eher die Ausnahme, nicht die Regel. Ein wichtiges Standbein war für ihn übrigens die Filmkritik. Klassische Theaterrezensionen hat er anderen überlassen. Inzwischen sind die Theater längst dazu übergegangen, ihre eigenen Diskursumgebung herzustellen, sei es durch Diskussionsveranstaltungen im Haus, dicke Programmhefte, aufwendig gemachte Websites und digitale Newsletter oder Theater-Magazine, wie dieses hier. Dramaturg*innen ist es wichtig, den Kontakt zur Stadt auch über angebotene Debattenforen zu suchen, sich einzubringen in das, was die Mitwelt in der Nachbarschaft beschäftigt und polarisiert. Die digitalen Medien bieten dafür weitere Fenster. Je weiter sich die Theater hinauslehnen, desto besser. Die Zugluft, die von der Bühne in die Außenwelt weht, ist derzeit ja auch aus anderen Gründen überlebenswichtig.

Andreas Karlaganis: Die Dramaturgie des Burgtheaters versucht gegenwärtig stark, die Möglichkeiten des kritischen, populären Theaters auszuloten und entsprechende Stücke für die Bühne zu entwickeln und entdecken.

Ethel Matala: Darüber wüsste ich gern mehr. Ich wäre neugierig zu erfahren, ob Ihr Publikum in Wien diese Einladung annimmt, ob es Lust hat, die Burg als Debattenort zu entdecken. Und auch, ob Sie Lust haben, sich mit den anderen Bühnen in der Stadt zu vernetzen, um die Theater zu Räumen des gesellschaftlichen Nachdenkens, zu Versammlungsorten für die Auseinandersetzung auszubauen. Wenn im Theater und ausgehend vom Theater Kontroversen entstehen, ist das nur gut. Bleiben Sie streitbar und provokationsfreudig!
 

ETHEL MATALA DE MAZZA
© Andreas Labes

Ethel Matala de Mazza

ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin. Ihr Buch „Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton" erschien 2018 im S. Fischer Verlag.

 

 

Zurück nach oben