„Der Ikarus-Mythos gehört allen“
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Die beiden Burgtheater-Produktionen ICH, IKARUS und MÄDCHEN WIE DIE wurden im Rahmen des STELLA-Festivals ausgezeichnet.
Wir sprachen mit Regisseurin Mechthild Harnischmacher und Dramaturgin Maike Müller über ihre Arbeit und ihr Gewinnerstück in der Kategorie „Herausragende Produktion für Kinder“: ICH, IKARUS.
Maike Müller: ICH, IKARUS war für uns der perfekte Text, da er einen klassischen Stoff und dessen Rezeptionsgeschichte mit Gegenwartsdramatik verknüpft.
Maike Müller: Bei Ikarus ist es natürlich auch toll, dass die Hauptfigur von diesem Stoff ein Kind ist.
Mechthild Harnischmacher: Und kein mitteleuropäisches Kind! Dadurch hatte man von Beginn an so eine Weite und Internationalität. Der Ikarus-Mythos gehört allen.
Mechthild Harnischmacher: Das alles ist in die Proben miteingeflossen. Es war sehr stark unser eigenes Kind auf den Proben präsent. Zudem wollten wir uns nicht auf einen moralischen Aspekt festlegen, wie das bei Ovid der Fall ist. Und so entstand bei uns eben nicht dieses hochmütige Kind, das unbedingt höher fliegen will und aus Übermut abstürzt.
Maike Müller: Für unseren Ikarus ist der Grund für das zu hohe Fliegen das unbedingte Überlebensbedürfnis, die Sehnsucht frei zu sein und sich selbst zu spüren. Vielleicht wirklich einfach der Versuch, auf die eigenen Bedürfnisse zu hören als Kind. Denn das geht oft nicht – aufgrund von Normierungen, oder aufgrund von der politischen Situation, in der das jeweilige Kind aufwächst.
Maike Müller: Das war für uns bei der Stücksuche sogar ein Grund, warum wir manche Stücke wieder beiseitegelegt haben und uns für ICH, IKARUS entschieden haben. Eine Erzählung, in der auf pädagogische Weise die Welt erklärt wird und was falsch und richtig ist, entspricht nicht unserer Vorstellung von Theater.
Mechthild Harnischmacher: Und vom Leben!
Maike Müller: Ja, denn wer entscheidet das? Wir mögen assoziative Erzählungen, die Mehrdeutigkeit zulassen, die vielleicht auch aus Leerstellen bestehen, die das Publikum dann selbst füllen kann. Und dem folgend wollten wir keine Unterscheidung zwischen „Theater für Ältere“ und „Theater für Jüngere“ vornehmen. Konkret hieß das für die Arbeit an ICH, IKARUS, dass wir uns ein autonomes Kind vorgestellt haben, dass sich das Stück anschaut und dabei für sich selbst denkt und fühlt, und nicht mit einer klaren Handlungsanweisung herausgeht.
Maike Müller: All dies hat der Text alles zugelassen und ermöglicht, dass alle in ICH, IKARUS ihre eigene Erzählung finden. Das haben wir gemerkt, wenn wir mit dem Publikum gesprochen haben: Kinder erzählen den Abend vollkommen anders als Jugendliche, als Erwachsene. Genau das zu erreichen, war unser Traum.
Maike Müller: Außerdem ist Ikarus eine Fluchtgeschichte. Und Fluchtgeschichten finden in der Regel nicht nur in einer Sprache statt. Ein weiterer Grund, mehrsprachig zu arbeiten, war die Tatsache, dass ICH, IKARUS eine Produktion ist, die durch die Schulen tourt und dort sehr viele Kinder sind, die auch andere Sprachen sprechen. Unser Wunsch war es, diesen Kindern zu erzählen: Ihr seid alle gemeint, ihr kommt vor.
Mechthild Harnischmacher: Ja, auch um die Schönheit, Vielfalt und Bereicherung von Sprache und anderen Kulturen zu zeigen. Mariam hat zum Beispiel erzählt, dass ihr in der Gymnasialzeit ihr Akzent abtrainiert wurde, ihre Grammatik wurde kritisiert, ihr Name falsch ausgesprochen und solche Dinge, sodass sie das Gefühl vermittelt bekommen hat, ihre Herkunft ablegen zu müssen, um dazuzugehören. Dadurch kommen dann auch ganz viele Identitätsfragen auf, wo komme ich eigentlich her, zu wem gehöre ich dazu. So eine Trennung ist ja auch unnötig, vor allem wo sich´s jetzt immer mehr vermischt, grad in Europa und der Weltgemeinschaft.
Maike Müller: Wenn man den Gedanken zu Ende führt, ist es ja auch nichts außergewöhnliches, was wir da mit den vielen Sprachen gemacht haben, das ist ja die Realität der Kinder! Einer meiner Lieblingsmomente, auf einer Probe kurz vor der Premiere vor Publikum war, als sich ein Kind umgedreht und auf eine befreundete Person gezeigt hat. Das Kind konnte die Sprache die es gehört hat selbst gar nicht, aber wusste, mein Freund spricht die! Solche verbindenden Momente gab es viele und das war total schön.
Mechthild Harnischmacher: Wir haben uns ja bewusst für die Sprachen entschieden, die in Wien mit am häufigsten gesprochen werden und dann geschaut, wer im Ensemble diese Einsprechen kann. Und dabei ganz bewusst gegen Sprachen wie Französisch entschieden, weil es leider immer noch einen Ost-Rassismus gibt, also dass Ost- bzw. Balkanländer nicht so einen hohen Status haben wie zum Beispiel Frankreich oder England. Mariam hat auch einen georgischen Volkstanz getanzt, den die Kinder, die aus nahen Regionen kommen, auch immer wieder mittanzen, weil sie ähnliche Volkstänze kennen.
Maike Müller: Die Opulenz von diesen Flügeln symbolisiert auch diese große Sehnsucht des Ikarus, auszubrechen, frei zu sein, eigene Entscheidungen treffen zu können. Bei der Ausstattung kam zudem der Recycling-Aspekt dazu. Uns war sehr darauf wichtig, ressourcenschonend zu arbeiten. Der größte Teil des Bühnenbildes ist recycelt, so haben wir haben das Produktionsbudget gar nicht aufgebraucht.
Mechthild Harnischmacher
studierte Germanistik, Kunstgeschichte, Theater- und Kulturwissenschaften. Nach einigen Regieassistenzen am Residenztheater München und am Burgtheater arbeitet sie seit 2022 als freischaffende Regisseurin.
Maike Müller
ist seit XXX kurzer Text.
Vom 1. bis zum 7. Oktober 2022 wurde das STELLA-Festival erstmals in Wien ausgetragen. Der Darstellende.Kunst.Preis für junges Publikum in Österreich – STELLA – wird seit 2007 jährlich in verschiedenen Kategorien durch eine Fachjury vergeben. Die Nominierungen erstreckten sich auf Produktionen von 18 unterschiedlichen österreichischen Theatergruppen/-häusern/-festivals aus acht Bundesländern, die im Jahr 2021 mit ihren Ensembles herausragende Inszenierungen für Kinder und Jugendliche auf die Bühne gebracht haben.
Das Jugendstück ICH, IKARUS von Oliver Schmaering erhielt die Auszeichnung der Kategorie „Herausragende Produktion für Kinder“.
Nominiert war das BURGTHEATERSTUDIO außerdem mit der Produktion MÄDCHEN WIE DIE von Evan Placey in der Kategorie „Herausragende Produktion für Jugendliche“, welches mit dem STELLA*22 Preis der Jugendjury ausgezeichnet wurde.
Wir gratulieren allen Gewinner*innen ganz herzlich!