„Der Ikarus-Mythos gehört allen“

von Anne Aschenbrenner. Mitarbeit: Antonia Michalski

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Die beiden Burgtheater-Produktionen ICH, IKARUS und MÄDCHEN WIE DIE wurden im Rahmen des STELLA-Festivals ausgezeichnet. 

Wir sprachen mit Regisseurin Mechthild Harnischmacher und Dramaturgin Maike Müller über ihre Arbeit und ihr Gewinnerstück in der Kategorie „Herausragende Produktion für Kinder“: ICH, IKARUS.

Max Lamperti, Mariam Avaliani
© Karolina Miernik
Anne Aschenbrenner: Wann ist euch das Stück ICH, IKARUS von Oliver Schmaering erstmals begegnet?
Mechthild Harnischmacher: Die Kollegin aus der Dramaturgie, Claudia Kaufmann-Freßner, hat den Text gefunden und kam damit auf uns zu. Wir hatten mehrere Ikarus-Adaptionen zur Auswahl. Die von Schmaering gefiel uns mit Abstand am besten.

Maike Müller: ICH, IKARUS war für uns der perfekte Text, da er einen klassischen Stoff und dessen Rezeptionsgeschichte mit Gegenwartsdramatik verknüpft.
Was interessiert euch an der Erzählung eines Klassikers?
Mechthild Harnischmacher: Klassiker kann man sehr gut als Folie verwenden, sie sind universell, stark und man kann auch visuell schön damit arbeiten. Wir waren auf der Suche nach einem Stück, das uns ermöglicht eine fantasiereiche, bildstarke Erzählung auf die Bühne zu bringen, gleichzeitig wollten wir aber auch von Themen erzählen, die uns wichtig sind.

Maike Müller: Bei Ikarus ist es natürlich auch toll, dass die Hauptfigur von diesem Stoff ein Kind ist.

Mechthild Harnischmacher: Und kein mitteleuropäisches Kind! Dadurch hatte man von Beginn an so eine Weite und Internationalität. Der Ikarus-Mythos gehört allen.
Der Ikarus-Mythos hat eine 3000jährige Tradition und ist einer der meist rezipierten in der europäischen Kulturgeschichte. Inwieweit hat das bei der Vorbereitung eine Rolle gespielt? Welche Schwerpunkte habt ihr gesetzt?
Maike Müller: Wir haben viel darüber diskutiert, wer Ikarus in der Rezeption ist und wer Ikarus bei uns auf der Bühne sein soll. Die Akzente sind schon durch Oliver Schmaering, den Autor von Ich, Ikarus gesetzt, diese Akzente haben wir durch minimale Änderungen verstärkt. Wichtig für unser Ikarus-Verständnis waren auch die Schauspieler*innen Mariam Avaliani und Max Lamperti, die in der Inszenierung beide Ikarus sind. Ihre und unsere persönlichen Anknüpfungspunkte zur Geschichte, nämlich unsere eigene Kindheit, wie wir aufgewachsen sind, unsere Erfahrungen als Kind und die daraus entstandenen Wünsche uns Sehnsüchte waren ein wichtiger Referenzpunt in der gemeinsamen Arbeit.

Mechthild Harnischmacher: Das alles ist in die Proben miteingeflossen. Es war sehr stark unser eigenes Kind auf den Proben präsent. Zudem wollten wir uns nicht auf einen moralischen Aspekt festlegen, wie das bei Ovid der Fall ist. Und so entstand bei uns eben nicht dieses hochmütige Kind, das unbedingt höher fliegen will und aus Übermut abstürzt.

Maike Müller: Für unseren Ikarus ist der Grund für das zu hohe Fliegen das unbedingte Überlebensbedürfnis, die Sehnsucht frei zu sein und sich selbst zu spüren. Vielleicht wirklich einfach der Versuch, auf die eigenen Bedürfnisse zu hören als Kind. Denn das geht oft nicht – aufgrund von Normierungen, oder aufgrund von der politischen Situation, in der das jeweilige Kind aufwächst.
Die beiden Protagonisten Dädalus und sein Sohn Ikarus befinden sich auf der Insel Kreta in Gefangenschaft. Dädalus, getrieben von Sehnsucht nach Freiheit, sucht nach einer Möglichkeit zur Flucht. Dädalus erfindet Flügel, die ihn und seinen Sohn in die Freiheit tragen können. Sie meistern die Herausforderung, der Erfolg wird jedoch vom Sturz des eigenen Sohnes in den Tod überschattet. Man könnte das nun in einem Stück für junges Publikum sehr pädagogisch aufsetzen: Dieser Moralaspekt kommt aber in eurer Arbeit nicht vor.
Mechthild Harnischmacher: Ja, der Aspekt, dass er hätte hören sollen, der hat uns überhaupt nicht interessiert.

Maike Müller: Das war für uns bei der Stücksuche sogar ein Grund, warum wir manche Stücke wieder beiseitegelegt haben und uns für ICH, IKARUS entschieden haben. Eine Erzählung, in der auf pädagogische Weise die Welt erklärt wird und was falsch und richtig ist, entspricht nicht unserer Vorstellung von Theater.

Mechthild Harnischmacher: Und vom Leben!

Maike Müller: Ja, denn wer entscheidet das? Wir mögen assoziative Erzählungen, die Mehrdeutigkeit zulassen, die vielleicht auch aus Leerstellen bestehen, die das Publikum dann selbst füllen kann. Und dem folgend wollten wir keine Unterscheidung zwischen „Theater für Ältere“ und „Theater für Jüngere“ vornehmen. Konkret hieß das für die Arbeit an ICH, IKARUS, dass wir uns ein autonomes Kind vorgestellt haben, dass sich das Stück anschaut und dabei für sich selbst denkt und fühlt, und nicht mit einer klaren Handlungsanweisung herausgeht.
Woher kam der Schwerpunkt auf das Thema Flucht?
Mechthild Harnischmacher: Ikarus ist schon bei Ovid übers Mittelmeer geflüchtet, genau da, wo heute die Boote untergehen. Dieser Teil der Geschichte ist so präsent, das kann man nicht ignorieren. So haben wir den Fokus auf das Thema Fluchtgeschichte gelegt, die Fassung dahin gehend überarbeitet und überlegt: Wie kann man die aktuelle politische Situation für Kinder erzählen? Wir haben damit angefangen, dass wir etablieren, dass er dort am Meeresboden nicht alleine ist, sondern mit vielen anderen und heute ist sein Tag, an dem er seine Geschichte erzählt.

Maike Müller: All dies hat der Text alles zugelassen und ermöglicht, dass alle in ICH, IKARUS ihre eigene Erzählung finden. Das haben wir gemerkt, wenn wir mit dem Publikum gesprochen haben: Kinder erzählen den Abend vollkommen anders als Jugendliche, als Erwachsene. Genau das zu erreichen, war unser Traum.
Wie politisch soll Theater für junges Publikum sein?
Maike Müller: Wir finden, dass man gar nicht früh genug damit anfangen kann, politische Themen im Theater zu behandeln. Natürlich geht es nicht darum, Kinder zu überfordern oder zu früh mit grausamen Themen zu konfrontieren, deswegen haben wir uns sehr bemüht, den Abend so zu bauen, dass er auf vielen Ebenen verstanden werden kann. Nicht zu vergessen: auch Kinder haben Fluchterfahrungen.
Trailer zu ICH, IKARUS
Ihr setzt bei eurer Arbeit auf Mehrsprachigkeit. Wir hören auf der Bühne Georgisch. Darüber hinaus sprechen Schauspieler*innen des Burgtheaters Passagen auf Türkisch, Ungarisch, Serbisch und Romanes. Wieso habt ihr diese Entscheidung getroffen?
Mechthild: Einerseits tatsächlich aufgrund der Biografie von Mariam Avaliani, die als Kind nach Deutschland gekommen ist und bis dahin Georgisch, Russisch und Englisch gesprochen hat, erst dann hat sie deutsch gelernt. Ein Ansatz in der Arbeit war auch, zu schauen, was für Fähigkeiten die Schauspieler*innen mitbringen und wie man die auf der Bühne einsetzen kann. Dass Mariam georgisch spricht war eine tolle Möglichkeit nicht nur deutsch auf der Bühne zu hören.

Maike Müller: Außerdem ist Ikarus eine Fluchtgeschichte. Und Fluchtgeschichten finden in der Regel nicht nur in einer Sprache statt. Ein weiterer Grund, mehrsprachig zu arbeiten, war die Tatsache, dass ICH, IKARUS eine Produktion ist, die durch die Schulen tourt und dort sehr viele Kinder sind, die auch andere Sprachen sprechen. Unser Wunsch war es, diesen Kindern zu erzählen: Ihr seid alle gemeint, ihr kommt vor.

Mechthild Harnischmacher: Ja, auch um die Schönheit, Vielfalt und Bereicherung von Sprache und anderen Kulturen zu zeigen. Mariam hat zum Beispiel erzählt, dass ihr in der Gymnasialzeit ihr Akzent abtrainiert wurde, ihre Grammatik wurde kritisiert, ihr Name falsch ausgesprochen und solche Dinge, sodass sie das Gefühl vermittelt bekommen hat, ihre Herkunft ablegen zu müssen, um dazuzugehören. Dadurch kommen dann auch ganz viele Identitätsfragen auf, wo komme ich eigentlich her, zu wem gehöre ich dazu. So eine Trennung ist ja auch unnötig, vor allem wo sich´s jetzt immer mehr vermischt, grad in Europa und der Weltgemeinschaft.

Maike Müller: Wenn man den Gedanken zu Ende führt, ist es ja auch nichts außergewöhnliches, was wir da mit den vielen Sprachen gemacht haben, das ist ja die Realität der Kinder! Einer meiner Lieblingsmomente, auf einer Probe kurz vor der Premiere vor Publikum war, als sich ein Kind umgedreht und auf eine befreundete Person gezeigt hat. Das Kind konnte die Sprache die es gehört hat selbst gar nicht, aber wusste, mein Freund spricht die! Solche verbindenden Momente gab es viele und das war total schön.

Mechthild Harnischmacher: Wir haben uns ja bewusst für die Sprachen entschieden, die in Wien mit am häufigsten gesprochen werden und dann geschaut, wer im Ensemble diese Einsprechen kann. Und dabei ganz bewusst gegen Sprachen wie Französisch entschieden, weil es leider immer noch einen Ost-Rassismus gibt, also dass Ost- bzw. Balkanländer nicht so einen hohen Status haben wie zum Beispiel Frankreich oder England. Mariam hat auch einen georgischen Volkstanz getanzt, den die Kinder, die aus nahen Regionen kommen, auch immer wieder mittanzen, weil sie ähnliche Volkstänze kennen.
Die Musik ist von Aki Traar, er hat für das Burgtheater auch die Musik zu GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT gemacht. Was war der Auftrag?
Mechthild Harnischmacher: Also ich hab ihm gesagt, irgendwas zwischen Disney und Wagner stell ich mir vor und er meinte „alles klar“ – er hat sofort verstanden was ich meine, und dann sind wir von diesem Punkt gestartet. Das war wirklich eine wunderschöne Zusammenarbeit, wie überhaupt mit Allen im Team, wir haben uns einfach gegenseitig inspiriert, die Bälle zugespielt und das Beste aus uns rausgeholt.
Obwohl in den unterschiedlichen Variationen des Ikarus-Mythos immer die gleiche Geschichte erzählt wird, entstehen je nach Akzentuierung bestimmter Motive und Elemente neue Wirkungen. Welche künstlerischen Entscheidungen stecken hinter Bühne und Kostüm?
Mechthild Harnischmacher: Auf jeden Fall sollte die Bühne die Gefährlichkeit von Höhe und Tiefe darstellen können und möglichst vielfältig einsetzbar sein, das ist immer gut, um viele Bilder und Assoziationen schaffen zu können. Und Julia hat das unglaublich toll umgesetzt! Das kam alles von ihr! Mir war darüber hinaus wichtig, auch den kunsthistorischen Aspekt zu zeigen. Ich habe unter anderem Kunstgeschichte studiert und liebe die vielen Darstellungen von Ikarus über die Jahrtausende hinweg. Dadurch ist Ikarus ganz alt und ganz jung zugleich. Um all das abzubilden habe ich mir von Anfang an Flügel gewünscht.

Maike Müller: Die Opulenz von diesen Flügeln symbolisiert auch diese große Sehnsucht des Ikarus, auszubrechen, frei zu sein, eigene Entscheidungen treffen zu können. Bei der Ausstattung kam zudem der Recycling-Aspekt dazu. Uns war sehr darauf wichtig, ressourcenschonend zu arbeiten. Der größte Teil des Bühnenbildes ist recycelt, so haben wir haben das Produktionsbudget gar nicht aufgebraucht.
Ihr habt den STELLA Preis für die herausragendste Produktion gewonnen. Wofür steht der Protagonist in ICH, IKARUS?
Mechthild Harnischmacher: Ikarus ist wir als Kinder, eigentlich wie alle Kinder auf der ganzen Welt. Ikarus soll ernst genommen sein mit allen Sorgen, Träumen und Wünschen. Und das sind Sorgen, Träume und Wünsche, wie sie die Kinder vor zweitausend Jahren hatten, bis heute, überall.
Mechthild Harnischmacher, Maike Müller
Mechthild Harnischmacher, Maike Müller

Mechthild Harnischmacher

studierte Germanistik, Kunstgeschichte, Theater- und Kulturwissenschaften. Nach einigen Regieassistenzen am Residenztheater München und am Burgtheater arbeitet sie seit 2022 als freischaffende Regisseurin.

 

Maike Müller

ist seit XXX kurzer Text.

Max Lamperti, Mariam Avaliani
Max Lamperti, Mariam Avaliani
© Karolina Miernik

Vom 1. bis zum 7. Oktober 2022 wurde das STELLA-Festival erstmals in Wien ausgetragen. Der Darstellende.Kunst.Preis für junges Publikum in Österreich – STELLA – wird seit 2007 jährlich in verschiedenen Kategorien durch eine Fachjury vergeben. Die Nominierungen erstreckten sich auf Produktionen von 18 unterschiedlichen österreichischen Theatergruppen/-häusern/-festivals aus acht Bundesländern, die im Jahr 2021 mit ihren Ensembles herausragende Inszenierungen für Kinder und Jugendliche auf die Bühne gebracht haben.

Das Jugendstück ICH, IKARUS von Oliver Schmaering erhielt die Auszeichnung der Kategorie „Herausragende Produktion für Kinder“.

Nominiert war das BURGTHEATERSTUDIO außerdem mit der Produktion MÄDCHEN WIE DIE von Evan Placey in der Kategorie „Herausragende Produktion für Jugendliche“, welches mit dem STELLA*22 Preis der Jugendjury ausgezeichnet wurde.

Wir gratulieren allen Gewinner*innen ganz herzlich!

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